3. Juli 2015

Tageswoche

XVIII. Demokratie-Kolumne

Das Plebiszit als Notbremse eines
verzweifelten Regierungschefs



Mit einem Referendum im direktdemokratischen Sinn hat das vom griechischen Ministerpräsidenten Alexis Tsipras innert acht Tagen für den 5. Juli angesetzte Plebiszit nur eines gemeinsam, den Volks­entscheid. Doch der schlägt in Brüssel ein wie eine Bombe und scheint Europas Spitzenpolitiker zu verstören wie der be­rüchtigte Fuchs im Hühnerstall.

Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ist das Plebiszit das diskredi­tier­tes­te Element der Direkten Demokratie. Zwei Volksentscheide und ein Mann sind die Ursache. Am 2. Dezember 1851 hatte Napoleon der Dritte (1808-1873), Neffe des ersten Napoleons, Schweizer Artil­le­rie­offizier und Ehrenbürger des Kantons Thurgau, kurz vor dem Ende seiner ordentlichen Amtszeit als vom französischen Volk gewählter Präsident mit einem Staatsstreich die Macht an sich gerissen. Nur 19 Tage später liess er Frankreichs stimmberechtigte Männer einer Ver­fassung zustimmen, die ihm zu diktatorischen Vollmachten verhalf. Am 21. November 1852 befragte er nochmals das Volk, diesmal zur Ab­schaffung der Demokratie und für die Wiedereinführung des Kai­ser­tums. Beide Male stimmten ihm über 90 % der Stimmenden zu. Na­po­le­on der Dritte liess sich zum Kaiser krönen und herrschte als solcher 18 Jahre lang.

Seither sind solche Plebiszite Lieblingsinstrumente von autoritären Herrschern und Diktatoren aller Art. Hitler bediente sich ihrer ebenso wie Pinochet. Meist ging es um mehr oder weniger suggestiv, meist unklar formulierte Fragen im Interesse der Macht, welche der Herrscher von sich aus den Stimmberechtigten vorlegte und diese in kurzer Zeit ohne grosse kontroverse Debatten oder echten Alternativen meist zustimmend entschieden. Dadurch wollten sich die Diktatoren eine scheindemokratische Legitimation verschaffen, die ihnen auf Grund ihrer meist wenig demokratischen Machtübernahme oder wegen eines fehlenden, wirklich frei und fair gewählten Parlamentes fehlte.

Ein anderer grosser Franzose und Ex-General, Charles de Gaulle (1890-1970), am 1. Juni 1958 ebenfalls staatsstreichförmig zum zweiten Mal an die Macht gelangt, liess im September 1958 die Franzosen eine Verfassung genehmigen, in der er der Form des präsidialen Plebiszits zu einer demokratischen Legitimität verhalf. Seither machen Frankreichs Präsidenten immer wieder und nicht ohne politische Hintergedanken von diesem ihrem Recht Gebrauch, irgend­eine Frage – Direktwahl des Präsidenten durch das Volk, die Dezen­tralisierung des Staates, die Erweiterung der EU oder deren Verträge – der Volksabstimmung, hier dann ebenfalls Referendum genannt, zu unterstellen. Meist erhoffen sie sich in Fragen, die in der eigenen Partei umstritten sind, einen Zugewinn an Prestige und Machtabsicherung. Freilich kann diese Operation auch schief gehen: So wollte der gleiche de Gaulle seine nach den 1968er Unruhen geschwächte Position durch ein sogenanntes Referendum über den Abbau des Pariser Zentralis­mus stärken; die Mehrheit verweigerte sich freilich seinem Vorschlag und de Gaulle trat als Präsident umgehend zurück.

In Griechenland erlaubt die Verfassung dem Regierungschef ebenfalls, ein Referendum anzusetzen. Allerdings muss ihm dabei die qualifizierte Mehrheit des Parlaments zustimmen – eine Hürde die Alexis Tsipras vergangene Freitagnacht nur mit Hilfe der rechtsextremen Fraktion überwand; und das Ergebnis der Volksabstimmung gilt nur, wenn 40 Prozent der Stimmberechtigten an die Urnen gegangen sind. Zwischen 1920 und 1974 erlebten die Griechen fünf solcher Plebiszite, immer ging es dabei um den König oder die Frage ob Griechenland eine Demokratie oder eine demokratische Monarchie sein solle.

Der Entscheid der griechischen Regierung und Parlamentsmehrheit zum Plebiszit schlug am vergangenen Wochenende in Brüssel, so die Pariser Liberation «wie eine politische Bombe ein». Und zwar nicht wegen ihrer dünnen demokratischen Substanz – eine Folge der viel zu kurzen Zeit zur Meinungsbildung der 9,8 Millionen wahlberechtigten Griechinnen und Griechen, der schwierigen Fragestellung*, der un­klaren Alternativen, der für das subito-Verfahren notwendigen Aus­nahmegesetze, und der völlig umstrittenen Folgen eines mehr­heit­li­chen Ja, beziehungsweise Nein am 5. Juli. Die Liberation kommentierte vorgestern, «dieser Appell an das Volk werde von den die Hors-Sol EU mittlerweile beherrschen Plutokraten fast als etwas Unanständiges» empfunden. In Brüssel gleiche ein Referendum heute dem berühmten Marx’schen Gespenst von 1848, das - damals in Form von aufmüpfigen Arbeiterinnen und Arbeitern - Europa in Angst und Bange versetzt, weil in den vergangenen 20 Jahre mit zu vielen Referenden zu viele Über­raschungen und grosse Enttäuschungen verbunden werden. Demokra­tie und auch nur Spurenelemente direkter Demokratie scheinen für zu viele in Brüssel tatsächlich zu Fremdwörtern geworden zu sein.

Dabei darf Tsipras für sich in Anspruch nehmen, im Sinne seines Wäh­ler­auftrages vom vergangenen Januar zu handeln: Er war mit dem Auftrag gewählt worden, ohne weitere Belastung der ärmsten vierzig Prozent der Griechen die Schuldenkrise zu überwinden. Deshalb wider­setzt er sich der Bedingung der Troika, die Mehrwertsteuer weiter zu erhöhen und die eh schon um 40 % gekürzten Renten um weitere 20 Prozent zu kürzen. Und er versucht jene, die ihm diesen Auftrag ge­ge­ben haben, zu veranlassen, ihn mit einem Nein zu diesen Vorschlä­gen den Rücken so zu stärken, dass die Troika diese Rücksichtnahme endlich akzeptiert und nicht weiter an der Form der Schuldentilgung festhält, welche trotz Rückzahlungen von 17 Milliarden Euro in den vergangenen sechs Monaten die griechischen «Schulden» von 128 % des Bruttoinlandproduktes 2009 auf heute 180 % haben anwachsen lassen.

Das Referendum genannte Plebiszit ist folglich der letztmögliche Griff eines verzweifelten, aber dem Gemeinwohl verpflichteten Regierungs­chefs nach der Notbremse. Es geht also weder um die Wiederein­füh­rung der Drachme oder gar um den Austritt aus der EU, sondern um die Frage, wie viel Last sich der Bürger und Bürgerin aufbürden lässt zur Bewältigung der Schulden- und Finanzkrise. Somit eigentlich ein sehr demokratisches Unterfangen, gilt doch seit der Bürgerrechtserklärung der Französischen Revolution als demokratisches Prinzip, wonach jene, die besonders betroffen sind von einer Entscheidung, Teil des Entscheidungsfindungsprozesses sein sollten.

Bejaht die Mehrheit der Griechen im Unterschied zu ihrer Regierung die plebiszitäre Frage, dann wird Tsripas wohl wie de Gaulle zurücktreten und Neuwahlen ausschreiben. Stimmt aber die Mehrheit der Griechen ihm zu und beteiligen sich mehr als 40 % von ihnen an diesem Ple­bis­zit, dann hat die griechische Linke bewiesen, dass es sozialverträgliche Lösungen zur Überwindung der europäischen Wirtschafts- und Wäh­rungsprobleme gibt, was viele Portugiesen, Spanier und Italiener ganz besonders interessieren und anfixen wird. Eine Perspektive, welche viele in Brüssel wohl mindestens so fürchten wie Plebiszite, anständige Referenden oder gar ordentliche Volksinitiativen.


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*Die Frage, zu der die 9,8 Millionen stimmberechtigten Griechinnen und Griechen eingeladen werden, am 5.Juli 2015 mit Ja oder Nein zu ant­worten, lautet wortwörtlich: «Muss der Entwurf einer Vereinbarung von Europäischer Kommission, Europäischer Zentralbank und Interna­tio­na­lem Währungsfonds akzeptiert werden, welcher am 25.6.2015 ein­ge­reicht wurde und aus zwei Teilen besteht, die in einem einzigen Vor­schlag zusammengefasst sind?» Der Rückzug dieser Vereinbarung durch die Verantwortlichen in Brüssel am Tag nach der nächtlichen Ankündigung des Referendums durch den griechischen Minister­prä­si­den­ten sowie den im Vergleich zu dessen Interpretation konträren Sinn, den der EU-Kommissionspräsident am Montag danach der Frage un­ter­legte, erleichterten deren Beantwortung für die meisten Griechen gewiss auch nicht.


Kontakt mit Andreas Gross



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