10. Dez. 2014

SP Pressedienst

In der Schweiz war die Freiheit nie eine Freiheit vom Staat, sondern immer eine Freiheit im Staat


Weshalb die EMRK in der Schweiz noch nicht die Wertschätzung ge­niesst, die ihr gebührt. Von Andi Gross, Nationalrat und Fraktions­prä­si­dent der SP in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates.

Die Schweiz verdankt den Erfolg ihrer bürgerlichen Revolution von 1847/48 und damit ihre moderne Existenz auch den Europäern. Doch anders als die meisten Europäerinnen und Europäer blieben den Schweizerinnen und Schweizern zwei schwerwiegende und leidvolle Erfahrungen erspart. Beide erklären, weshalb die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) in der Schweiz noch nicht die Wertschätzung geniesst, die sie verdient.

Die meisten EuropäerInnen mussten sich ihre Freiheit gegen ihren Staat erkämpfen. Der französische Staat ist älter als die französische Demokratie. In Deutschland und Österreich unterdrückten die staat­lichen Obrigkeiten jahrzehntelang alle demokratischen Bewegungen. Auch in Italien gab es einige Könige, welche die Demokratisierung der Gesellschaft lange behinderten; diese hatte erst eine Chance, nachdem sie abgetreten waren. In der Schweiz heisst dies, was anderswo Staat heisst, Bund oder die Eidgenossenschaft. Die Schaffung dieses Bundes war in der Mitte des 19. Jahrhunderts ein Werk der liberalen und radikalen Mehrheiten in knapp etwas mehr als der Hälfte der Kantone. Wie dieser Bundesstaat aussieht, steht in der Bundesverfassung, wiederum ein Werk der Mehrheiten in den Kantonen und der Kantone. Auch die Entwicklung dieses Bundesstaates ist kein Ding von Anderen oder Fremden. Sie folgt langsam aber sicher jeweils dem Willen und der Entwicklung von Mehrheiten.

Das heisst also, in der Schweiz war die Freiheit in der Regel nie eine Freiheit vom Staat, sondern immer eine Freiheit im Staat. Der Staat gehört sogar zu den Ermöglichern unserer Freiheit, jedenfalls nicht zu deren realen oder potenziellen Gegnern, vor denen der Bürger geschützt werden muss.

Die zweite grosse Ausnahme betrifft das Leiden von Millionen von Europäerinnen und Europäern unter dem, was man als den zweiten 30jährigen Krieg in Europa von 1914 bis 1945 bezeichnen kann. Fast 100 Millionen Menschen haben in den Gewaltorgien dieser Kriege ihr Leben oder ihre menschliche Zukunft verloren. Die meisten Staaten konnten die Würde ihrer Bürgerinnen und Bürger nicht schützen. Viele waren sogar an der Verletzung dieser Würde aktiv beteiligt.

Die Schweizerinnen und Schweizer wurden von diesen Katastrophen verschont. Sie erfuhren nicht, was es heisst, wenn die eigene Würde schutzlos der Gewalt ausgesetzt wird. Sie überlebten die Kriege ohne weitere Verletzungen. Viele meinten sogar, sie verdankten dies allein sich selber, mindestens aber ihrem Staat. Umso weniger sahen sie sich veranlasst, irgendwelche Schutzmechanismen gegenüber diesem ihren Staat einzurichten.

Die anderen Europäer schworen sich, alles zu tun, um einen dritten Weltkrieg zu verhindern. Sie wollten nicht länger allein allem Missgeschick ausgeliefert sein. Sie strebten sogar einen föderalistisch verfassten europäischen Bundesstaat an; der sollte vereinen, was bisher immer wieder gegeneinander gekämpft hat. Und als Teil dieser europäischen Verfassung sollte ein Grundrechtskatalog geschaffen werden, welche oberhalb der Staaten die Würde aller Menschen auch dann schützt, wenn sie ein Staat verletzen sollte.

Der erste Teil dieses Projektes war während der 1950er Jahre, im gespaltenen Europa des Kalten Krieges, nicht zu schaffen. Doch der zweite Teil blieb keine grandiose Utopie. Aus ihr wurde die Seele des 1949 von den Parlamentariern der zehn demokratischen Staaten Europas gegründeten Europarates, die Menschenrechts-Konvention. Und der Europarat schuf in Strasbourg sogar ein Gericht, den Euro­pä­ischen Menschenrechts-Gerichtshof (EMRG), an den sich jeder Bürger wenden kann, der in seinem Heimatland alle Gerichtswege hinter sich gebracht hat und der immer noch davon überzeugt ist, es sei ihm Unrecht geschehen, weil seine heimatlichen Richter seine Menschenrechte nicht geschützt hätten.

Die Schweiz brauchte 14 Jahre, bis sie merkte, dass der Europarat alle diejenigen Werte schützt und verbreitert, die auch sie teilt. 1963 trat sie ihm bei. Doch die EMRK konnte sie erst 1974 ratifizieren, weil bis 1971 die Schweizer Frauen von den Männern diskriminiert, von der Demo­kra­tie ausgeschlossen, das heisst also in einem Menschenrecht verletzt worden waren.

Seither hat das Strasbourger Gericht vielen Schweizerinnen und Schweizern immer wieder zu ihrem Recht verholfen. Und es hat dem Schweizer Bundesrat und dem Parlament immer wieder geholfen, schneller als üblich die Gesetze so zu verbessern, dass die Grund­rechte vieler benachteiligter Schweizer weniger verletzt werden können. Schliesslich war die Wirkung der EMRK und des Gerichtes so überzeugend, dass die dort geschützten Grundrechte auch der neuen Bundesverfassung zugrunde gelegt wurden, welcher die Mehrheit der SchweizerInnen und der Kantone 1999 zugestimmt hatte.

Doch im kollektiven Unterbewusstsein vieler Schweizerinnen und Schweizer ist die EMRK noch nicht angekommen. Zu wenig kümmern sie sich um das, was sie vielleicht auch einmal schützen könnte. Zu wenig sind sie sich über die Gründe der Existenz einer der segens­reichsten Institutionen des grossen Europa der 47 Staaten bewusst. Diese existentiellen Gründe waren zwar in der Schweiz nicht genau so vorhanden wie in anderen europäischen Staaten, aber sie waren der Entwicklung einer menschlichen Schweiz äusserst förderlich. Wären die Schweizerinnen und Schweizer sich dessen eher bewusst, so würden sie merken, dass im vermeintlich Fremden das Wichtigste von ihnen selber so gut aufgehoben ist, wie es zu Hause gar nicht möglich wäre. Ist doch auch in diesem Fall das Eigene im Fremden ebenso gut zu finden wie das Fremde im Eigenen.


Kontakt mit Andreas Gross



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