5. Feb. 2015
TagesWoche
Basel
VII. Demokratie-Kolumne
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Konflikte sind das Gegenteil von Gewalt
Ein Krieg bedeutet Gewalt, Konflikte hingegen bilden einen Stein im Mosaik der Demokratie, in der unterschiedliche Interessen gegeneinander abgewogen und auf Augenhöhe verhandelt werden.
Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass vor allem bei Diplomaten und auch in vielen Medien in letzter Zeit immer mehr von «Konflikten» die Rede ist, wenn es eigentlich um Kriege oder andere Formen gewaltsamer Auseinandersetzungen geht? Als ob es ihnen davor grausen würde, das Kind beim Namen zu nennen. Doch diese mehr oder weniger bewusste und von vielen unbedachte Begriffsverschiebung ist dramatisch. Sie bricht nämlich ebenso einen wesentlichen Mosaikstein aus unserem Gesamtkunstwerk Demokratie, wie dies jene tun, welche die Macht nur negativ besetzen und die Bürgerinnen und Bürger damit unbewusst der Ohnmacht überlassen (vgl. Beitrag vom 23. Januar).
Ein Konflikt ist kein Krieg
Denn Konflikte sind die natürlichen Kinder der Freiheit. Wo Menschen frei sind, leben sie mit ihren Differenzen und tragen diese aus, sie werden ständig und in unterschiedlichsten Lebensbereichen mit Konflikten konfrontiert. Und diese haben mit Kriegen, dieser industriellen Entfesselung der Gewalt und Vernichtung, erst einmal gar nichts zu tun. Ganz im Gegenteil. Denn dort, wo der Tod zu Hause ist, auf dem Friedhof beispielsweise, herrscht Ruhe, es gibt kein Leben und keine Konflikte mehr. Auf dem Schlachtfeld bringen die Menschen einander um ihre Lebenschancen, sie tun sich Gewalt an. Die Konflikte haben sie längst hinter sich gelassen.
Wenn immer zwei oder noch mehr Menschen im gleichen Moment Unterschiedliches wollen und beides nicht sofort und gleichzeitig verwirklichen können, dann haben sie ein Problem, eben einen Konflikt. Sie reden miteinander, tauschen sich aus, machen sich kundig über die Interessen, Motivationen und Ziele des anderen, setzen diese in eine Beziehung zu den eigenen und versuchen sich dann auf einen Weg zu verständigen, der beiden erlaubt, etwas von dem zu realisieren, was gleichzeitig unmittelbar und sofort nicht gemacht werden kann. Vielleicht nacheinander, vielleicht mit unterschiedlichem Tempo, auf Umwegen, jedenfalls so, dass keiner ganz unzufrieden ist, selbst wenn keiner genau das schafft, was er sich ursprünglich vorgenommen hat.
Zuhören, reden, verständigen, die Diskussion, das sind alles Werkzeuge aus dem Baukasten der Demokratie; Jean Ziegler bezeichnete sie kürzlich als «Atem der Demokratie». Sie erlauben uns, Konflikte fruchtbar zu machen; konstruktiv mit ihnen umzugehen, so dass keine Lebenschancen geschmälert werden, das heisst auch nicht ein Hauch von Gewalt Platz findet. Die Gewalt ist sogar die Antithese zum Konflikt, oder anders herum: Wenn immer die Demokratie lebt, stark und lebendig ist, dann vermag eine Gesellschaft die vielen natürlichen Konflikte gewaltfrei auszutragen. Nicht nur der Baukasten der Demokratie, auch das ganze Mosaik mit all seinen Teilen verhilft ihr dazu.
Wenn aber Gewalt sichtbar wird, im Kleinen wie im Grösseren, privat oder öffentlich, zwischen Einzelnen, Gruppen oder ganzen Staaten, dann stimmt immer etwas mit der Demokratie nicht. Sie ist entweder verletzt, zu schwach, zu wenig ausgereift, zu rudimentär, zu oberflächlich, es wird ihr kein Platz gemacht. Die Gewalt zeigt immer die Schwächen der Demokratie; sie zeigt, dass einzelne Mosaiksteine aus dem Gesamtkunstwerk abhandengekommen sind, dass bei anderen nachgebessert oder dass wiederum andere ganz repariert, ausgetauscht und weiterentwickelt werden müssen.
Mehr als ein notwendiges Übel
Ein intakter Werkzeugkasten der Demokratie und ein funktionierendes leistungsfähiges Gesamtkunstwerk sind aber auch deswegen so wichtig, weil Konflikte mehr sind als gleichsam notwendige Übel. Ganz im Gegenteil. Sie und der konstruktive Umgang mit ihnen und das entsprechende Know-how sind die Voraussetzungen für individuelle und kollektive Lernprozesse, gleichsam der Fortschritt ohne Gewalt. -- Wo Freiheit herrscht, da kann ich widersprechen. Wo Widerspruch aufkommt, kommt Vergessenes, Verborgenes, Verdrängtes zur Sprache. Es wird diskutiert – nach dem Atem die Seele der Demokratie. Und wo diskutiert wird, lässt sich lernen – eine notwendige, wenn auch meistens leider nicht ganz hinreichende Voraussetzung für notwendige Neuerungen und Reformen.
Das heisst wiederum, wir sollten nicht nur mit dem Konflikt leben lernen, sondern wir müssen ihn immer mal wieder sogar suchen. Auf jeden Fall brauchen wir ein positives Konfliktverständnis, eine lebendige Konfliktkultur – und genau dies verhindert, wer den Konflikt mit seiner schrecklichen Antithese, der Gewalt und dem Krieg, gleichsetzt. Wir brauchen die Konfliktkultur, damit wir lernen, und zwar rechtzeitig. Dies ganz im Sinne von Friedrich Dürrenmatt, der einmal meinte, nach Katastrophen zu lernen sei einfach, viel anspruchsvoller und wichtiger wäre es aber, rechtzeitig zu lernen, damit es nicht zur Katastrophe kommt. Dafür brauchen wir unsere Konflikte und den sorgsamen Umgang mit ihnen. Damit es nicht zu Gewalt und der Schmälerung unserer Lebenschancen kommt.
Kontakt mit Andreas Gross
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