16. Okt. 2013
Kuala Lumpur


Notizen AG

Die Priorisierung des Nationalen öffnet
der Fremdbestimmung Tür und Tor



9 analytische und perspektivische Diskussions-Impulse
und –Anstösse zum Thema Schweiz – Europäische Union


1.
Die Mehrheit vom 9. Februar ist durch bedenkliche Einstellungen zu erklären, die derzeit nicht nur in der Schweiz, sondern in vielen west­europäischen Ländern sehr deutlich sichtbar sind: Ein neue Hinwen­dung und Priorisierung des Nationalen (eine Art Neo-Nation­alismus), eine Abwehr gegenüber Ausländern, Ausländischem und übernatio­na­len Normen, neuer Egoismus und Angst vor «Über­frem­dung», Lohn­druck und Fremdbestimmung, Kritik an den Wachstumsfolgen sowie Ablehnung der negativen Globalisierungseffekte. -- Die Schweizer Gesellschaft ist also auch in dieser Beziehung sehr europäisch und ein Teil Europas – ohne dass ihr dies freilich sehr bewusst ist: Es werden hier Einstellungen und Haltungen zum Ausdruck gebracht, die auch in Frankreich, Dänemark oder den Niederlanden sehr deutlich zu erkennen sind.

2.
Zentrale Motivation der Mehrheit vom 9.2. war nicht der Bruch der Bilateralen Verträge sondern der Wunsch, die Zuwanderung von Menschen nicht einfach als Schicksal erfahren oder hinnehmen zu müssen, sondern ihn selber mitgestalten zu können. Das Parlament wird versuchen, ein entsprechendes Gesetz zu formulieren, dass diesem Wunsch entgegenkommt und die Bilateralen Verträge sowie die ihnen zugrundliegenden Vereinbarungen nicht grundsätzlich in Frage stellt. Das könnte den Initianten der Abstimmung vom 9.2.14 zu wenig weit gehen, weswegen diese dann das Referendum gegen das neue Gesetz ergreifen werden, so dass wiederum die Mehrheit der Bürger­innen und Bürger entscheidet, ob das neue Gesetz ausreicht oder nicht. -- Auch dieser Wille, die Personenfreizügigkeit in Europa zu gestalten zu können, ist übrigens keine schweizerische Eigenheit; er wird in ganz vielen westeuropäischen Gesellschaften sichtbar.

3.
Der Grund der Mühe, welche viele Schweizer mit der EU haben, ist nicht konjunkturell oder mit den Folgen der Finanzkrise zu erklären. Er ist viel mehr historisch bedingt. Die Schweiz hat alleine alle grossen europäischen Katastrophen (von 1870 bis 1945) relativ unbeschadet überlebt. Diese Erfahrung hat eine Mentalität geschaffen, welche davon ausgeht, dass man alleine alles besser machen könne und sich über die übliche Kooperation hinaus nicht enger mit anderen Staaten ver­bünden müsse. Zudem hat die Mehrheit der Schweizer den Ehrgeiz nicht, die Welt oder Europa mitgestalten zu wollen. Sie sind mit ihrer Existenz in der Nische zufrieden und haben keine weiteren Ambitionen. Paradoxerweise sind sie bereit, damit auch eine grosse Dosis Fremd­be­stim­mung hin zu nehmen; denn vieles, was die Schweiz umtreibt, lässt sich durch die Schweiz alleine nicht gestalten. Dieses für ein Land, das sehr viel von Selbstbestimmung redet und von ihr viel hält, enorme Paradoxon aufzuzeigen und zu problematisieren ist bisher den Europäern in der Schweiz nicht gelungen. Daran müssen wir gewiss viel mehr arbeiten, ohne freilich in Grossmacht-Versuchungen oder einem entsprechenden Anspruch zu verfallen.

4.
Die Schweiz ist nicht nur soziologisch in sich selber ein kleines Europa. So verdankt sie ihre moderne Existenz Europa - auch die Tatsache, dass ihr als einziges europäisches Land die 1848er (liberale) Revolu­tion gelang und sie die erste alle Männer umfassende Demokratie in Europa wurde. Denn hätten viele andere Völker 1848 nicht auch die Revolution gegen die Konservativen versucht, namentlich die Wiener, die Prager, die Ungarn, die Böhmer – dann hätte Metternich freie militärische Kapazitäten gehabt, die er gegen die liberalen Schweizer eingesetzt und den hiesigen Konservativen zum Durchbruch verholfen hätte. Versprochen hatte er dies – doch wegen der eigenen Revolutio­nä­re konnte er dieses Versprechen nicht einlösen.

5.
Die schweizerischen liberalen Revolutionäre von 1848, ganz besonders der radikale Flügel unter ihnen, wollte 1848 keine Insel im monarchi­schen Europa errichten, sondern in und mit der Schweiz einen Anfang machen für ein ganzes demokratisches Europa. Diese Ambition und das Bewusstsein, dass man auch den eigenen Erfolg dem revolu­tio­nären Engagement der anderen verdankte, kam auch darin zum Ausdruck, dass man den in ihren Ländern Unterlegenen und jetzt flüchtenden Revolutionären nicht nur sofort Asyl gewährte, sondern ihnen auf Wunsch auch noch das schweizerische Bürgerrecht offerierte – so wie die Französische Revolution Heinrich Pestalozzi zum Ehren­bür­ger ernannt hatte, nebst vielen anderen revolutionären Schweizern des ausgehenden 18. Jahrhunderts.

6.
In Anlehnung an US-Erfahrungen und unter der Weiterentwicklung von republikanischen demokratischen Errungenschaften der 1830er Jahre gelang der Schweiz 1848 das Design eines föderalistischen Bundes­staa­tes, dessen Verfassung, wie von Condorcet 1791 gewünscht, erst in Kraft trat, nachdem sie von der Mehrheit der Männer und der Kan­to­ne angenommen worden war – eine absolute demokratische Pionier­leistung. Die über den Gründungsakt hinausgehende Direkte Demo­kratie kam erst später, 1874 und 1891, als sich mächtige Bür­ger­be­we­gungen angesichts von parlamentarischen Mehrheiten, welche die Sorgen und Nöte der einfachen Menschen vernachlässigten, die Volks­rechte und damit das letzte Wort bei Gesetzes- und Verfassungs­re­vi­sionen erkämpften.

7.
Auf diese demokratische und föderalistische Errungenschaft von 1848 verwiesen übrigens schon 1942 die belgischen Widerständler, als sie in ihrer klandestinen Zeitung diskutierten, wie das nach dem Krieg aufzu­bauende Europa aussehen sollte, das einen 3. Weltkrieg verunmög­li­chen müsste. Sie wollten es tun wie die Schweizer von 1848: Es sollte ein auf der Basis einer demokratisch angenommenen Verfassung or­ga­ni­sier­ter föderaler, diesmal europäischer Bundesstaat errichtet werden. Ursprünglich haben ja dann auch einige der 10 Gründerstaaten des Europarates 1949 dessen Parlamentarische Versamm­lung auch des­halb so begrüsst, weil sie darin die Verfassungs­ge­ben­de Versammlung dieses kommenden europäischen Bundesstaates sahen. Dass dies dann nicht klappte, hat den ersten Präsidenten dieser Versammlung, den grossen Belgier Paul Henri Spaak im Dezember 1951 sogar zum Rücktritt veranlasst.

8.
Statt auf einer die BürgerInnen miteinbeziehenden Verfassung fusste die 1957 begründete EWG und bis heute die EU nur auf Verträgen – das ist ein notabene enormer Unterschied.

9.
Bei allen immensen Erfolgen dieses Vertrags-Europa (ich sehe den grössten Erfolg nicht in der ausserordentlichen wirtschaftlichen Ent­wicklung sondern vor allem in der Tatsache, dass die allermeisten ost- und mitteleuropäischen Staaten nach 1989 gewaltfrei integriert und die Nachkriegsspaltung Europas friedlich überwunden werden konnte) zeigen sich heute die Nachteile der fehlenden europäischen Bundes­ver­fas­sung: Die Bürger sind der EU zunehmend entfremdet, die Ver­träge werden in einer Art ausgelegt, dass die Märkte nicht aus­rei­chend sozial und ökologisch korrigiert werden können, die EU-Rechtsetzung hat keine ausreichende direkte demokratische Legitimation.

Ich bin überzeugt, Europa muss stärker werden und kann dies nur, wenn es auch demokratischer wird, das heisst, dass es sich eine fö­deralistische Bundesverfassung gibt, welche von den Europäern und den Mitgliedstaaten mehrheitlich in einer einzigen ersten grossen europäischen Völkerabstimmung angenommen werden muss.

Je föderalistischer und je demokratischer die EU wird, desto leichter wird es auch sein, die Schweizerinnen und Schweizer von einem EU-Beitritt zu überzeugen. Zudem sind heute auch gut ausgebaute na­tio­nale Demokratien zu klein geworden zur Entscheidung der grossen existenziellen Fragen - von der Art wie gewirtschaftet wird bis zum Klimawandel, von der Verkehrspolitik bis zu den Sozialstandards, die zu berücksichtigen sind. Also sollten die Schweizer auch in der EU mitbestimmen können und dies über ihre eigenen Vertreterinnen und Vertreter.

Gewiss ist dies noch nicht die konsolidierte Meinung des Bundesrates, doch persönliche Überzeugungen darf auch ein Bundesrat zum Aus­druck bringen, so lange er die eine von der anderen zu unter­schei­den weiss und dies auch deutlich macht.

Ich hoffe also, das die neue Kommission einen neuen Anlauf, diesmal einen echten, für den Einstieg in den europäischen Verfassungprozess und damit zur Transnationalisierung der Demokratie wagen wird – ich hoffe dies ebenso, wie ich alles unternehmen werde, die Europa-De­batte auch in der Schweiz voranzubringen und zu verhindern, dass sie zu schnell nationalistisch verengt und simplifiziert geführt wird, wie dies jetzt leider der Fall ist.


Kontakt mit Andreas Gross



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