1. Okt. 2014

Tages-Anzeiger,
Zürich

Wenn wir dies nicht mehr tun, wissen wir nicht, welche Reformen nötig wären, um freie Wahlen zu ermöglichen


Die Fragen stellte Felix Schindler

Sind ihrer Ansicht nach die Voraussetzungen für demokratische und freie Wahlen in Bulgarien gegeben?

Die Voraussetzungen sind schlecht. Wir haben es mit dem ärmsten Land in der EU zu tun (Durchschnittslohn 425 Euro und die Rente beträgt 150 Euro); die Politiker haben sich diskreditiert; es herrschen korrupte Strukturen, politische Macht wird für Geschäftemacherei missbraucht, monatelang gab es Protestaktionen auf der Strasse, das Vertrauen in die politischen Institutionen ist sehr tief. Und dennoch müssen Wahlen stattfinden. Die Verfassung verlangt dies, nachdem die alte Regierung zurücktrat, nachdem sie anlässlich der Europawahlen im Frühjahr gemerkt hat, das sie nicht mehr das Vertrauen der Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger hinter sich hat. Wir können nirgends warten bis gute Voraussetzungen herrschen. Sonst gäbe es in manchen Ländern nie Wahlen.

Es besteht der Verdacht, die Atak-Partei sei von Russland finanziert. Welchen Einfluss hat dieser Verdacht auf ihre Einschätzung?

Die Atak-Partei ist eine kleine rechtsextreme Partei, deren Führer teilweise faschistoide Haltungen und Diskurse pflegen. Dass sie Geld von Russland bekommt ist gut möglich. In Bulgarien hat die russische Regierung überhaupt sehr viel Einfluss, auch wegen des russischen AKW und der russischen Gasimporte. Man sagt ganz allgemein, dass Bulgarien der Zugang Russlands in die EU darstellt. Doch für die Schwierigkeit, faire und freie Wahlen abzuhalten, ist dies noch eines der kleineren Probleme.

Letztes Jahr tauchten 350‘000 gefälschte Wahlzettel auf. Hat sich seither etwas geändert?

Das kann durchaus wieder passieren, obwohl die damals dafür verantwortliche Regierungspartei, die dann die Wahlen vom Mai 2013 dennoch verlor und jetzt wieder führt in den Meinungsumfragen, sich wohl zurückhalten wird, zu versuchen, nochmals derart zu betrügen. Viel schlimmer ist aber, dass immer noch, wie immer seit etwa sieben Jahren, mehr als ein Drittel der Bürgerinnen und Bürger bereit sind, ihre Stimme an den meist bietenden zu verkaufen.

Wie viel Gewicht hat die Beurteilung der Wahlbeobachter für die Legitimation einer Wahl?

Wenn die Wahlbeobachter gut arbeiten und in der Lage sind, eine differenzierte Analyse abzugeben, dann gilt ihre Beurteilung einiges. Sie schafft nicht die Legitimation, sie kann aber zeigen, dass das neue Parlament zu wenig Legitimität hat, weil der ganze Wahlprozess unfrei und unfair war und das neue Parlament nicht den Willen der Stimmberechtigten zum Ausdruck bringt.

Hat der Europarat weitere Sanktionsmöglichkeiten als die Suspendierung des Stimmrechts eines Mitgliedstaates?

Die Parlamentarische Versammlung des Europarates hat nicht mehr Sanktionsmöglichkeiten. Der Europarat im Allgemeinen kann mittels eines entsprechenden Beschlusses des Ministerkomitees einen Staat aus dem Europarat ausschliessen. Dies wird freilich mit einem EU-Mitglied kaum je passieren.

Teilen Sie die Sorge von Frau Fiala, die Wahlbeobachtung könnte als Feigenblatt missbraucht werden?

Nicht unbedingt. Das kommt auf die Qualität unserer Arbeit an. Wenn wir offen und genau sagen, was wir feststellen und beobachten, kann unsere Beurteilung nicht missbraucht oder falsch verstanden oder gar instrumentalisiert werden.

Welchen Effekt hätte es, wenn der Europarat auf eine Wahlbeobachtung verzichten würde?

Das wäre ein bemerkenswertes Eigentor. Denn dann entginge dem Europarat die Möglichkeit, ein Land genau zu analysieren, den ganzen Wahlprozess, der immer mehrere Monate umspannt, von der Entwicklung des Wahlgesetzes bis zu dessen Umsetzung und der Art der Wahlkampagne, der Transparenz der beteiligten Gelder bis zur Unabhängigkeit der Wahlbüros und der Seriosität der Auszählung - all dies muss man gesehen und beurteilt haben, um eine Wahl zu verstehen und ihre Qualität beurteilen zu können. Wenn wir dies nicht mehr tun, können wir die Qualität der Demokratie nicht beurteilen und wissen auch nicht, welche Reformen nötig wären, um freie und fairere Wahlen zu ermöglichen und die Qualität der Demokratie zu verbessern.


Kontakt mit Andreas Gross



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