21. September 2014

Das Parlament, Berlin

Mehr Direkte Demokratie kann auch
in Deutschland gewagt werden!



Von Andreas Gross (Zürich/St-Ursanne), ist Politikwissenschaftler und Historiker, Schweizer Nationalrat und seit sieben Jahren Fraktionsvor­sitzender der Sozialdemokraten in der Parlamentarischen Versamm­lung des Europarates. Seit über 25 Jahren leitet er ein privates wissenschaftliches Institut für Direkte Demokratie und war zwischen 1992 und 2013 Lehrbeauftragter für Direkte Demokratie an den Universitäten Marburg, Speyer, Trier, Jena und Hamburg.

Wer für die Erweiterung der indirekten (repräsentativen) Demokratie um direktdemokratische Elemente plädiert, will weder schweizerische Verhältnisse nach Deutschland tragen, noch dem Populismus frönen, die Privilegierten privilegieren oder gar die repräsentative Demokratie aushebeln. Ganz im Gegenteil: In Deutschland würde die direkte Demokratie sehr viel überzeugender funktionieren als in der Schweiz; Populisten hätten es schwerer, weil in der Direkten Demokratie weniger pauschal und sachnaher argumentiert werden muss und die repräsen­tative Demokratie würde gestärkt, weil Unrecht viel weniger übersehen und Vernachlässigte besser vertreten werden könnten im Bundestag.

Wer für den Einbau von direktdemokratischen Elementen plädiert, möchte die Macht besser verteilen, die Freiheit der Bürgerinnen und Bürgern vergrössern, deren Entfremdung zur Politik abbauen und die Lernfähigkeit der Gesellschaft stärken. Wobei Macht nicht im Geiste von Max Weber negativ verstanden wird, sondern mit Hannah Arendt positiv: Als Fähigkeit von gemeinsam handelnden Menschen, ihr Lebensumfeld mitgestalten zu können und nicht einfach als Schicksal erfahren zu müssen. Mehr Freiheit wird gewagt, weil das aktive Mo­ment der Demokratie nicht auf die Wahl beschränkt bleibt, sondern auch zwischen den Wahlen im Hinblick auf und bei einem Volks­ent­scheid wahrgenommen werden kann. Wenn also die demokratischen Momente der gemeinsamen Entscheidung häufiger werden, Bürger und Bürgerinnen weit öfter verbindlich entscheiden können, dann muss ungleich intensiver und häufiger diskutiert, nachgedacht und vor allem zugehört werden – und dies sind die Fäden, aus denen individuelle und kollektive Lernprozesse gewoben werden, also genau das, was unsere Gesellschaft am nötigsten hat.

Das waren auch die Gründe, weshalb Liberale von Johann Jacoby bis Hildegard Hamm-Brücher, Grüne von Petra Kelly bis Winfried Kretsch­mann und Sozialdemokraten von Wilhelm Liebknecht, Friedrich Albert Lange, Wilhelm Hoegner bis Herbert Wehner und Jochen Vogel die Stärkung der indirekten Demokratie durch direktdemokratische Elemente befürwortet haben. So meinte Herbert Wehner lange vor 1968 in einem weniger oft zitierten Satz seiner berühmten Rede am Godesberger SPD-Parteitag von 1959: «Es kam und kommt darauf an, den Staat wirklich bis in die letztmöglichen Konsequenzen zu demokratisieren und für die politische Demokratie feste Fundamente durch die Verankerung der Demokratie im Wirtschaftsbereich und im Sozialen zu schaffen».

Wer freilich die Güte der Direkten Demokratie sichern will, muss Rechte und Verfahren sehr sorgfältig verfassen und die Schnittstellen zwischen direkter und indirekter Demokratie sowie zwischen Grundrechtsschutz und Partizipation, das heisst zwischen Verfassungsschutz und Verfas­sungs- bzw. Gesetzesrevision sorgsam ausgestalten, so dass – Freiheit, Rechtstaat und Demokratie sind kein Nullsummenspiel, sondern leben von- und miteinander – alle drei in ihrem Bezugsfeld gestärkt werden.

Dazu gehört erstens die Ausdifferenzierung der direktdemokratischen Mitwirkungsformen, deren sorgfältige prozedurale Ausgestaltung und Einbettung ins Ensemble der Demokratie. So gilt es zu unterscheiden zwischen dem Nachfragerecht der Bürgerinnen und Bürger zu dem, was in ihrem Namen im Parlament beschlossen worden ist. Das wäre in helvetischer Diktion das Gesetzesreferendum, das innert 100 Tagen von einem Prozent der Wahlberechtigten verlangt werden kann, worauf der Volksentscheid nach etwa sechs Monaten erfolgt. Erachtet das Parlament eine Gesetzesrevision als dringlich, so kann es eine solche mit einem qualifizierten Mehr beschliessen; das Gesetz tritt dann sofort in Kraft, vorbehältlich eines möglicherweise negativen Volksentscheids, wonach es sofort wieder aufgehoben würde.

Das andere grosse Mitwirkungsrecht der Bürgerschaft ist das Initiativ­recht. Damit kann jederzeit eine Verfassungs- oder Gesetzesrevision beantragt werden. Hier sind sowohl für die Sammlung der Unter­schrif­ten als auch für die Beurteilung durch Verwaltung und der Regierung sowie der Interessensorganisationen, der Zivilgesellschaft und schliess­lich der grossen Öffentlichkeit mehr Zeit einzuräumen. Genau dies lässt sich aus den US-amerikanischen Erfahrungen mit der Direkten Demokratie lernen: Je grosszügiger die Behandlungsfristen angesetzt werden, desto inklusiver sind die ausgelösten Deliberations­prozesse und desto häufiger sind direkte oder indirekte Nebenwirkungen. Zur feinen Ausgestaltung der Schnittstelle zwischen repräsentativer und unmittelbarer Demokratie gehört das Recht der Parlamentsmehrheit, einer Volksinitiative aus der Bürgerschaft zum gleichen Problem einen parlamentarischen Gegenvorschlag gegenüberstellen zu können, wobei dann im Volksentscheid die Bürgerinnen und Bürger zwischen drei Optionen – keine Reform, Reform gemäss Bürgerinitiative oder Reform gemäss Parlamentsalternative – entscheiden und ihre Präferenz ausdrücken können.

Schliesslich kann im Rahmen der direktdemokratischen Erweiterung der parlamentarischen Demokratie eine Art Antragsrecht der Bür­ger­schaft ans Parlament eingerichtet werden; ein solcher Bürgerantrag würde ähnlich behandelt wie ein parlamentarischer Vorstoss und hätte keinen automatischen Volksentscheid zur Folge.

Entscheidend für ein bürgernäheres Machtgleichgewicht ist aber die Möglichkeit einer kleinen aber noch repräsentativen Minderheit der Bürgerinnen und Bürger jederzeit und auch gegen den Willen von Regierung oder Parlamentsmehrheit einen Volksentscheid zu Bundes­tagsbeschlüssen oder Gesetzesrevisionen auslösen zu können. Dieses Wissen verändert die politische Kultur. Regierung und Parlamentarier müssen viel mehr in die Gesellschaft hineinhören, viel mehr Überzeu­gungs­anstrengungen auf sich nehmen, Widerspruch antizipieren und die Vorlagen sorgfältiger austarieren, dass sie weniger Widerstand provozieren.

Eine solche Demokratisierung der deutschen Demokratie würde viele deutsche Bürgerinnen und Bürger ermutigen, sich als politisch Han­deln­de und Gefragte mit der Politik zu versöhnen. Das schafft neue Identifikationsmöglichkeiten und mehr Freiheit für alle und erweist sich als Integrationsfaktor moderner, vielfältiger und grosser Gesellschaften; ganz im Sinne Friedrich Dürrenmatts, der einmal zur Schweiz meinte, die Schweizerinnen und Schweizer blieben trotz allen Verschieden­heiten gerne zusammen, weil man sie alle vier Monate über ihre Differenzen streiten lässt. Es müsste ja in Deutschland nicht unbedingt alle vier Monate sein, aber drei Volksentscheide pro Jahr wären für Land und Leute ein Segen.


Kontakt mit Andreas Gross



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