6.7.2014
Schweiz am Sonntag
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Ohne die Fehler des Westens hätte Putin niemals so gehandelt
SP-Nationalrat Andreas Gross (61, ZH) gilt als Russland-Spezialist des Europarats. Er erregte Aufsehen mit dem Russland-Bericht vom Oktober 2012. Im Juni 2013 erarbeitete Gross einen Bericht über den Fall Magnitski. Er erklärte, die Todesumstände Magnitskis seien als «Verstoss gegen das russische Gesetz und die Europäische Konvention über Menschenrechte» anzusehen. Gross ist aber auch ein Kenner der Ukraine. Im November 2012 verfasste er einen Bericht zu den ukrainischen Wahlen. Jene vom Mai 2014 verfolgte er als Chef der Europarat-Beobachtermission vor Ort.
Herr Bäumle, ist Putin verrückt? Oder handelt er rational und berechenbar?
Martin Bäumle: Putin ist alles andere als verrückt. Er handelt kalkuliert. Russland ist keine Demokratie nach unserem Massstab. Putin ist eine starke Figur, auch wenn die Oligarchen im Hintergrund wohl eine grössere Rolle spielen, als wir wissen. In der Ukraine hat er nichts völlig Überraschendes gemacht.
War die Annexion der Krim absehbar?
Bäumle: Wer die Geschichte kennt, musste sehen, dass die Krim mit dem Schwarzmeerhafen Sewastopol für Russland unglaublich wichtig ist. Wenn der Vertrag für diesen Hafen gekündigt würde, was die Ukrainer nicht klar ausgeschlossen haben, sähe Russland seine Interessen bedroht. Putin hat diese latente Bedrohung ausgenutzt. Das war völlig illegal, aber absehbar und nachvollziehbar. Auch in der Ostukraine hat man Putin in die Hände gespielt: Man hat die Sprachenfrage ungeschickt lanciert.
Herr Gross, ist die Annexion der Krim auch für Sie nachvollziehbar?
Andreas Gross: Putin ist hochintelligent, aber das ist nicht dasselbe wie klug oder weise. Die Ukraine ist für Russland enorm wichtig. Auf keinen Fall will Putin eine Ukraine vor der Haustür, die demokratischer ist als Russland. Deshalb war die Revolution ein Schock für ihn. Er hatte nicht mit ihr gerechnet. Er wollte die Ukraine unbedingt in seiner Eurasischen Union haben, und die Revolution in der Ukraine hat das verhindert. Das hat er kompensiert mit seiner illegalen, unzählige Verträge missachtenden Annexion der Krim.
Die Angst vor der Demokratie als Triebfeder?
Gross: Auch in Russland schwindet die Unterstützung für Putin, zumindest in den grossen Städten. Man darf die 30’000 Menschen nicht unterschätzen, die in Russland gegen die Annexion der Krim demonstrierten. Diese Leute riskierten ihr Leben. Die Annexion ist nur ein kurzfristiger Erfolg, der nun durch die Propagandamaschine ausgeschlachtet wird. Langfristig wird die Krim für Russland eine grosse Hypothek, die wirtschaftlichen Probleme werden zunehmen.
Warum?
Gross: Die Nachbarländer sind jetzt noch nervöser, der Westen rüstet bereits auf, die Nato hat Oberwasser, das Vertrauen zwischen Russland und dem Westen ist zerstört. Aber es ist eine Eigenheit von Menschen wie Putin, dass sie kurzfristig denken und zivilisatorische Errungenschaften der Machtpolitik opfern.
Putin wartete also nur auf den richtigen Moment, um zuzuschlagen?
Gross: Primär kompensierte er einen grossen Verlust und eine derbe Niederlage. Doch die USA und die EU haben tatsächlich auch grosse Fehler gemacht. EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso hat die Ukraine vor Ausbruch der Krise aufgefordert, sich zwischen Westen und Osten zu entscheiden. Das ist so, wie wenn man uns auffordern würde, zwischen linkem und rechtem Bein zu wählen. Der zweite Fehler war, die Nato ins Spiel zu bringen. Ihre Expansion entspringt einem grossen strategischen Irrtum. Sie hat in der Ukraine nichts zu suchen. Und dann hätte man nach der Revolution niemals zulassen dürfen, dass der rechtsextreme Block in der Übergangsregierung prägend wirkte, nichts zur Integration des Südostens getan wurde, ja man sogar versuchte, die Russischsprachigen zu diskriminieren. Das lieferte Putin Munition zuhauf.
Bäumle: Richtig, aber es ist eine Realität, dass der Umsturz ohne die Aktionen dieser gewaltbereiten rechten Gruppierungen wohl gar nicht gelungen wäre, auch wenn das der Westen nicht wahrhaben wollte. Die neue Regierung hat dann die Ostukraine sträflich vernachlässigt. Aber da sind wir beim Grundproblem: West- und Ostukraine gehören zusammen, das ist ein Land. Die Ukraine müsste ähnlich wie die Schweiz ein neutraler, blockfreier Staat sein zwischen Europa und Russland. Die EU sollte deshalb auch gar nicht versuchen, der Ukraine einen Beitritt in Aussicht zu stellen.
Sind die Fehler des Westens wirklich so entscheidend? Putin hätte wohl auch so gehandelt.
Gross: Nein, niemals. Wir müssen selbstkritisch sein. Die einzige Referenz für Russland sind die USA. Diese haben das Völkerrecht selbst gebrochen, etwa mit dem «Krieg gegen den Terror» oder dem Irakkrieg. Die Russen schauen genau, was der Westen macht. Aber ich will etwas ergänzen: In der Ukraine sind die Voraussetzungen für die autonome Selbstverwaltung, wie sie in der Krim sinnvoll gewesen wäre, schon lange schlecht. Dazu fehlt eine wichtige Voraussetzung: Demokratie und rechtsstaatliche Verhältnisse. Im Herbst 2012 wählte die Ukraine ein Oligarchen-Parlament! Der Streit um die Sprachen hat seit Jahren Misstrauen gesät, die Korruption ist gross, die Löhne tief, die Pensionen unsicher. In manchen Gegenden ist die Armut erschreckend. Diese Menschen haben nie einen Staat erfahren, mit dem sie sich identifizieren können. Das wissen die Russen genau, und sie machen es sich zunutze.
Wer sind die Separatisten im Osten?
Gross: Ein Konglomerat verschiedener Gruppen mit verschiedenen Interessen, lange nicht alle an der langen Hand des Kreml und mit einer russischen Perspektive. Die Polizei in Kiew hat uns gesagt, wie sehr der alte ukrainische Sicherheitsapparat von russischen Agenten und Geheimpolizisten infiltriert sei. Das geschah unter dem Regime Janukowitschs. Deshalb weiss Russland genau über die Schwachstellen in der Ukraine Bescheid. Sie setzen dort an, wo das System am brüchigsten ist.
Bäumle: Ich bin nicht mit allem einverstanden. Es gibt in Kiew einen florierenden Mittelstand, und auf dem Land herrscht vielerorts Armut - aber nicht nur in der Ostukraine, wie Andi Gross sagt, sondern auch im Westen. Der ist zum Teil noch schlechter dran. Deshalb kann man nicht sagen, der Osten wurde vernachlässigt. Unter Janukowitsch, der selber aus dem Osten stammt, floss sehr viel Geld von Kiew dorthin. Deshalb sind die Unruheherde jetzt dort, wo man nach dem Machtwechsel in Kiew befürchtet, dass keine Mittel vom Zentralstaat mehr fliessen. Da gibt es nur eine Lösung: Die Ukraine muss sich stärker regionalisieren, auch über die Budgets. Die Schweiz mit ihrem föderalen Aufbau ist ein gutes Vorbild. Und: Die russische und die ukrainische Sprache müssen gleichwertig sein. Auch hier wissen wir aus der Schweiz, wie wichtig das ist.
Welche Rolle spielen die Oligarchen?
Bäumle: Man kann schon von einem Oligarchen-Parlament sprechen, wie das Andi Gross tut. Aber ohne die Oligarchen ist die Ukraine nicht zu halten! Es waren die Oligarchen im Osten, die sich in den kritischen Phasen zu Kiew bekannt haben, auch um ihre Pfründe zu sichern. Das ist unschön, aber so ist das nun mal in einer jungen Demokratie.
Gross: Im Ancien Régime wurden jeden Tag mehrere Millionen gestohlen. Sie flossen in die oligarchischen Strukturen und die einfachen Menschen fühlten sich massiv vernachlässigt. Heute weiss jeder, dass der Ukraine bis 2017 170 Milliarden Euro fehlen. Entsprechende Kredite sind aber an einen Sparkurs gebunden. Er könnte diese einfachen Menschen erneut enttäuschen.
Bäumle: Man muss vorsichtig sein mit offiziellen Zahlen. Sie werden zu negativ dargestellt. Das inoffizielle Bruttoinlandprodukt liegt drei- bis fünfmal höher. Die Korruption ist gross, und das System funktioniert nur, weil alle von der Schattenwirtschaft leben. Mit 200 Dollar pro Monat, dem offiziellen Lohn eines Polizisten oder Lehrers, kann niemand leben. Der Lehrer verdient mit Privatstunden weitere 400 bis 600 Dollar, die er kaum versteuert. Damit bringt er seine Familie und insgesamt das System vorwärts. Das Regime Janukowitsch hat aber den Staat ausgeblutet.
Gross: Bestohlen.
Bäumle: Das System hat sich bedient. Das ist das Unschöne. Es kam zu so grossen Beträgen, weil es Milliarden an Devisen kostete, die Währung über Jahre an den Dollar zu koppeln. Jetzt muss die Regierung diese Koppelung fallen lassen. Das heisst: Die Löhne bleiben stabil, Preise und Energiepreise hingegen steigen. Damit müssen die Leute noch stärker von Schattenwirtschaft und Selbstversorgung leben. Junge Hoffnungslose sind so leicht zu rekrutieren. Putin muss nicht stark steuern. Es reicht, die Dinge laufen zu lassen. Die Menschen für Unruhen finden sich von selbst. In der Ostukraine sind parallel mafiöse Bandenkriege im Gang. Es handelt sich um alte Strukturen aus den 90er-Jahren.
Stehen sie unter Moskaus Einfluss?
Bäumle: Absolut. Wenn Putin seine Hände in Unschuld wäscht, ist das eine Illusion. Ohne latente Unterstützung mit Material und Beratung wäre das Ganze nicht möglich gewesen.
Gross: Es gibt Tausende von Freischärlern. Sie kennen nur eines: kriegerische Handlungen. Sie gehen dorthin, wo sich Kämpfe führen lassen.
Wie wichtig ist eine Regionalisierung?
Gross: Die Ukraine ist das beste Beispiel für ein Land, aus dem man keinen zentralistischen Staat machen sollte. Sondern eine Föderation. Doch Russland hat die Begriffe Föderation und Föderalismus kaputt gemacht. Es nennt sich zwar Föderation, ist aber total zentralistisch und autoritär strukturiert. Die Ukraine könnte von wirklichen Föderalismen enorm viel lernen. Wie man Vielfalt zusammenhält, Einheit schafft: Indem niemand zu kurz kommt. Das ist aber Politikern nur schwer zu vermitteln, die unter totalitären Umständen aufgewachsen sind. Sie müssen lernen, dass sie auch jenen gegenüber verantwortlich sind, die sie nicht gewählt haben. Dass sie den Staat nicht als Privateigentum nutzen und ausbeuten dürfen.
Bäumle: Präsident Poroschenko tut im Moment das richtige. Die Ukraine ist eigentlich zentralistisch entstanden, die Schweiz hingegen föderalistisch. Das ist die grosse Differenz. Deshalb lässt sich unser Modell nicht übertragen. In der aktuellen Situation ist eine starke Zentralregierung für eine Stabilisierung wichtig. Sonst entstehen Separationstendenzen. Der Schlüssel liegt nun in einer Art Finanzausgleich für strukturschwache, ländliche Gebiete. Poroschenko muss der Bevölkerung das Gefühl geben, dass sich der Wohlstand positiv entwickelt. Janukowitsch konnte sich nur an der Macht halten, weil die Leute in den zentralen Städten das Gefühl hatten, es gehe wirtschaftlich aufwärts. Er machte vieles nicht so falsch. Bis zum fatalen Entscheid in Sachen EU.
Gross: Janukowitsch gewann die Wahlen 2010 mit einem europäischen Diskurs. Gleichzeitig bestahl er aber den Staat. Ich hoffe, dass Poroschenko die Weisheit hat, die Macht besser auszubalancieren. Er sollte ein Semi-Präsidialsystem einrichten, das das Parlament aufwertet.
Sie haben Präsident Poroschenko getroffen. Wie schätzen Sie ihn ein?
Gross: Ich habe nun zweimal mit ihm gesprochen und ihm vor allem zugehört. Er machte einen sehr guten, überzeugenden Eindruck. Er unterstützte beide Revolutionen auch aus ideellen Gründen, nicht aus opportunistisch-geschäftlichen. Er weiss um die Bedeutung anständiger rechtsstaatlicher Verhältnisse.
Bäumle: Das Hauptabsatzgebiet seiner Schokolade-Produkte war Russland. Er hat durchaus das Wissen, dass es nicht nur um eine egoistische Übung geht. Er ist wirklich ein Hoffnungsträger. Die Verfassung ist auf einem guten Weg.
Gibt es jetzt eine Beruhigung? Oder sind ähnliche Szenarien zu erwarten?
Gross: Nein. Die baltischen Staaten sind in der Nato und Kasachstan in der Eurasischen Union. Putin möchte zwar eine destabilisierte Ukraine, die scheitert. Doch er wird die Destabilisierung anderer Gebiete nicht weiter vorantreiben.
In der EU hat man aber Angst um Bulgarien, immerhin ein EU-Mitgliedstaat.
Bäumle: Es werden nun Schreckensszenarien aufgetischt. Im Zusammenhang mit Europa wird nicht viel passieren. Die Ukraine ist für Russland ein ganz spezielles Land. Gelingt es, die Ukraine in der Akzeptanz beider Seiten positiv voranzubringen, sind die Risiken der Staaten Westeuropas weitgehend gelöst. Putin wird keine unnötigen Risiken eingehen. Sewastopol ist von geostrategischer Bedeutung und gehört nun Putin. Er will es behalten. Was die Krim betrifft, sind vielleicht in ein paar Jahren wieder Gespräche möglich. Im Moment muss man die Realitäten akzeptieren.
Gross: Im Europarat betonte ich mit österreichischen Kollegen, die Ukraine sollte Interesse haben an einem Neutralitätsstatus. Die Russen verstehen die Neutralität. Sie sind Väter der Schweizer Neutralität von 1815, ebenso wie Götti der österreichischen von 1955. Ich weiss aber nicht, ob diese Erkenntnis Fuss fasst. Bei den grossen Mächten wie EU und USA hat die Neutralität leider nicht einen hohen Tauschwert. Obwohl sie für die Ukraine angemessen wäre. Zudem hat die EU selber auch riesige Demokratieprobleme. In Bulgarien, Rumänien und Ungarn zum Beispiel. Aber das Hauptproblem ist nun die Entwaffnung der kriegerischen Gruppen.
Bäumle: Es braucht eine Versöhnung. Es gab viele persönliche Verletzungen. Praktisch jede ukrainische Familie hat russische Wurzeln und umgekehrt. Durch Propaganda sind Feindschaften entstanden.
Gross: Richtig. Das zu überwinden wird sehr schwierig. In diesen Gebieten ist vor allem russisches TV zu sehen. Und dieses ist eine chauvinistische Katastrophe. Es schürt unablässig Hass und Entfremdung.
Bäumle: Ein Schlüssel ist die Energiepolitik. Die Ukraine ist extrem abhängig von russischen Gasexporten.
Russland stellt der Ukraine das Gas ab. Ist das korrekt?
Bäumle: Nein. Wer aber das Gas über Jahre hinweg nicht bezahlt, muss damit rechnen. Der Schlüssel liegt darin, dass die Ukraine eigentlich genügend Energieressourcen hat und kein russisches Gas bräuchte. Dafür müsste sie ihre Energiereserven besser bewirtschaften und die Effizienz steigern.
Kontakt mit Andreas Gross
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