25. Juni 2014
Quelle
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Wir müssen lernen, ohne Katastrophe zu lernen
Ansprache von Andreas Gross,
Fraktionschef der Sozialdemokraten
zur Commemoration Ceremony des Europarates
zum 100. Jahrestag der Entfesselung des 1. Weltkrieges
Sehr geehrte Damen und Herren
Schweigen scheint mir das Entsetzen am angemessensten zum Ausdruck zu bringen, das uns erfassen muss, wenn wir an das zurückdenken, was vor 100 Jahren auf unserem Kontinent begann.
Schweigen, denn es führte uns zur Stille – die grösste Antithese zum ungeheuren, für uns unvorstellbaren Lärm der explodierenden Granaten und Bomben, Gewehrsalven und der zusammenbrechenden Häuser und Wälder, denen in den folgenden drei Jahrzehnten erst in Europa und später auf der ganzen Welt über 150 Millionen Menschen zum Opfer fielen. Über 150 Millionen – eine unvorstellbare Zahl von Menschen. Von anderen Menschen zu Tode gebracht.
Schweigen. Stille.
Vor 100 Jahren wurde nicht einfach der sogenannte 1. Weltkrieg vom Zaune gerissen. Es begann der zweite 31jährige Krieg in der europäischen Geschichte, der ganz genau genommen, wenn auch nicht für alle und nicht immer gleich heiss, 75 Jahre dauerte, das ganze kurze 20. Jahrhundert lang.
1914 war eine Zäsur. Eine alte Welt ist untergegangen: Das alte Europa der Imperien, welche die Macht über das Recht stellten; die Welt der dünnen eigensüchtigen Eliten und der vielen einfachen, krampfenden, leidenden, jedenfalls ohnmächtigen Menschen. In unvorstellbaren totalen Kriegen, industriellen Gewaltorgien, Massenabschlachtungen – ein Pole prägte später den Begriff «Genozid» dafür, ein anderer «die Verbrechen an der Menschlichkeit», für Norbert Elias war es ein «Zivilisationsbruch».
Einem genialen Dichter fiel die Erkenntnis zu, wonach aus Katastrophen jeder lernen könne, die eigentliche Kunst aber sei, ohne Katastrophen zu lernen.
Der erste Teil der Jahrhundertkatastrophe reichte nicht. Es brauchte noch eine damit verknüpfte Katastrophe. Erst jetzt, nach 1945, sollte die Menschenwürde nicht mehr den Staaten anvertraut werden, sondern einer revolutionären überstaatlichen Instanz, unserem Gerichtshof, der Perle unseres Europarates. Wenigstens das Menschenrecht wird jetzt auch vor staatlicher Macht geschützt.
Am Ende des dritten Drittels der Jahrhundert-Katastrophe fand endlich wieder zusammen, was zusammengehörte. Doch zu einem ähnlich umfassenden, die alten Gegner miteinbeziehenden, friedens-, freiheits- und demokratiesichernden transnationalen systemischen Fortschritt reichte es nicht. Gewaltvolle Rückfälle waren der Preis.
Diese Schöpfung steht uns immer noch bevor. Wir müssen sie ohne weitere, grössere Katastrophen schaffen. Denn erst eine transnationale Wertegemeinschaft, die das Recht eines jeden Einzelnen vor jeder fremden Macht zu schützen versteht, kann verhindern, dass in 150 Jahren wieder einige lieber schweigen möchten, weil wir nicht zu verhindern wussten, was Millionen von Menschen so viel Schmerz zufügte, wie das, was heute vor 100 Jahren begann.
Kontakt mit Andreas Gross
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