17. Mai 2014

Le Temps

Wir können ausnahmslos alle wesentlichen Probleme nur mit den EuropäerInnen angehen, aber sicher nicht ohne oder gar gegen sie


Zu den europäischen Wahlen vom 25 Mai 2014. - - Es gibt kein einziges wesentliches politisches Problem unserer Zeit, welches die acht Millionen Schweizerinnen und Schweizer alleine besser bewältigen können als zusammen mit den sie umgebenden 550 Millionen Europäerinnen und Europäern. Sie könnten gut ohne uns. Wir aber könnten ohne sie nicht sein. Deshalb betrifft auch uns, wer von den Europäern in die Behörden gewählt wird; denn diese Behörden gestalten ihre Lebensumstände mit. Und die sind auch die unseren.

Unsere wesentlichen Probleme haben keinen nationalen oder regionalen Charakter. Sie sind kontinental, ja transkontinental, weltumspannend, global eben. Sind die Anderen in Not, können wir keinen Frieden finden. Geht es den Anderen schlecht, kann es uns nicht gut gehen. Verpesten die Anderen die Luft, fehlt es auch uns an Frische. Erwärmen sie die Atmosphäre zu sehr, schmelzen auch unsere Gletscher. Die Stürme und Unwetter finden keinen Bogen um unser Land. Benutzen die Anderen zu viele Lastwagen und Autos statt wie die Klugen den Zug und das Tram, suchen sich die Camions ihre Wege auch durch die Schweiz. Sind die Anderen zu lärmig, können auch wir weder schlafen noch schaffen. Schlagen sich zu viele der Andere die Köpfe ein, werden jene, die ihnen ausweichen können, den Weg zu uns finden.

Wir leben miteinander, voneinander und beieinander. Alleine fänden wir die Friedhofsruhe - aber keine lebendige Existenz. Was wir zum Leben benötigen, können wir ohne die Anderen nicht finden. Wir können nur produzieren, wenn sie uns mit Rohstoffen beliefern. Und das, was wir produzieren, können wir nur verkaufen, wenn andere es auch kaufen wollen und können. Die Schweiz alleine gäbe zu wenig her und nähme uns zu wenig ab.

Vor Jahrhunderten waren die Anderen die Nachbarn im anderen Dorf im gleichen Tal. Später, die Talschaften hatten sich als Gemeinschaft zu verstehen begonnen, waren die Anderen jene auf der anderen Seite der Hügelketten, der Berge, jene am anderen Ufer. Vor über 150 Jahren fanden sich die Regionen zum Bund und die Anderen lebten nun in anderen Staaten und Ländern.

Heute gibt es in Europa immer noch fast 50 verschiedene Staaten, hunderte von Regionen, tausende von Städten, hundertausende von Dörfern. Und in ihnen leben über 800 Millionen verschiedene Menschen, ein Prozent von ihnen in der Schweiz. Doch es gibt fast keine Anderen mehr in diesem Europa. Die meisten streben nach dem gleichen Glück. Sie wünschen sich für sich und ihre Liebsten das Gleiche. Sie teilen die gleichen Ängste, hegen ähnliche Hoffnungen, fürchten die gleichen Dämonen, wünschen sich den ähnlichen Segen. Sie leben miteinander, voneinander und beieinander. Jeder ist verschieden, so wie jede bei uns eine eigene ist. Doch ganz anders ist keiner mehr. Es gibt heute in Europa die Anderen nicht mehr.

Schweizer begannen schon vor 150 Jahren, sich Anderen nützlich zu machen. Sie verstanden zu nehmen und zu geben. Vor allem dann, wenn die Anderen sich untereinander bedrohten und zerstörten. So konnten wir dreimal alleine, aber allen dienstbar, überleben. Keiner wollte uns ganz an den Kragen, denn jeder hatte auch etwas von uns und an uns.

Die anderen haben in dieser Zeit teilweise zum zweiten, ja zum dritten Mal alles verloren. Daraus lernten sie, sich zusammenzuschliessen und gemeinsam zu sichern, was keiner alleine oder gar gegeneinander bewahren kann. Sie wollten dies 1949 ganz ähnlich tun wie 1848 wir. Mit einer demokratisch verankerten, föderalistischen Bundesverfassung. Doch dies war ihnen damals nicht möglich. Deshalb haben sie einen Vertrag, keine Verfassung; deshalb geben die Regierungen den Ton an, nicht die Bürger; deshalb ist die Wirtschaft sehr weit integriert, die Demokratie und die Politik jedoch sind zurückgeblieben. Aber weil ihr Bund sachlich dennoch sehr erfolgreich war, haben sie seither vergessen, dass sie es ursprünglich mit einer anderen Form besser versucht hatten.

Wir aber glaubten, weil wir lange alleine scheinbar unversehrt überlebt hatten, könnten wir auch in Zukunft alleine am besten leben. Wir sehen immer noch die Anderen und bemerken nicht, wie ähnlich sie uns geworden sind. Untereinander zwar verschieden wie wir, aber nicht anders. Und leider merken einige noch nicht, dass wir ohne sie nichts, mit ihnen aber das viele Gemeinsame besser gestalten könnten.

Heute erkennen viele unter ihnen die Konstruktionsprobleme ihres Bundes. Die Basis, der Staatsvertrag ist zu schwach, er macht die Regierungen zu stark, erlaubt ihnen fast ohne die Bürgerinnen und Bürger zu regieren. Das verschafft der Wirtschaft und dem Markt Vorherrschaft. Die Politik wird entmachtet.

Das haben wir gemerkt, viele Europäer aber auch. Und je mehr diese Bürgerinnen und Bürger ins stärker gewordene Europaparlament Demokraten schicken, welche die europäische Form verbessern, die Union verfassen und föderalisieren und so dem Bürger und der Bürgerin die Macht verschaffen, die er allein national nicht mehr finden kann, dann können auch wir erkennen, dass zusammenfindet, was zusammengehört.

Ohne das Europaparlament lässt sich die EU nicht demokratisieren und föderalisieren. Es muss den Konvent bestimmen, welcher die entsprechende Verfassung ausarbeitet und den Europäern vorlegt zum Entscheid. Nur so kommt die Europäische Gemeinschaft zur Demokratie, die sie stärker werden lässt. Und nur so kommt die Demokratie zur transnationalen Macht, die sie, das heisst wir alle, brauchen, um die Märkte zu zivilisieren.

Und so kommen die Schweizer an in Europa, weil sie sich in Europa wieder erkennen können. Uns sie merken, dass diese zwar verschieden sind, aber keine Anderen mehr. Und dass wir gemeinsam alle unsere wesentlichen Probleme besser angehen können als ohne oder gar gegen sie. Deshalb ist auch für die Schweizer wichtig, wer am 25. Mai ins Europaparlament gewählt wird. Denn wir leben miteinander voneinander und beieinander.


Kontakt mit Andreas Gross



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