19. März 2014

Tages-Anzeiger

Das Unrecht, das derzeit geschieht, ist die Folge von vielen kleinen Fehlern, die über lange Zeit gemacht wurden


Die Fragen stellte Felix Schindler

Welche Reaktion sollte man von Putin erwarten, wenn man ihn unter Druck setzt?

Putin ist ein eiskalter Machtmensch. Er nutzt jede Schwäche seiner Gegner sofort aus. Die neue ukrainische Regierung hat anfangs den Fehler gemacht, den Schutz der russischen Minderheiten nicht genügend zu berücksichtigen. Damit legitimierte Putin den Einmarsch auf die Krim. Vor allem aber hat der Westen vor 20 Jahren versprochen, dass sich die Nato nie bis an die russische Grenze ausdehnen wird. Jetzt flirtet die Ukraine mit der Nato, da darf man sich nicht wundern, wenn die Russen intervenieren.

Das klingt, als hätten Sie Verständnis für die russische Aggression?

Nein. Putins Annexion der Krim ist inakzeptabel. Sie stellt eine Verletzung des Völkerrechts dar, dafür gibt es keine Rechtfertigung. Aber in der Politik muss man verstehen, warum Fehler passieren. Das Unrecht, das derzeit geschieht, ist die Folge von vielen kleinen Fehlern, die über lange Zeit gemacht wurden. Deshalb kann man das Unrecht auch nicht von heute auf morgen korrigieren.

Die Schweiz verzichtet, anders als die EU und die USA, vorerst auf Sanktionen gegen Russland. Ist die Schweizer Zurückhaltung feige oder klug?

Sanktionen gegen Russland sind für die Schweiz eine Nulloption. An die EU und die USA brauchen wir uns nicht anzulehnen. Im Gegenteil. Die Schweiz hat den Vorsitz der OSZE, weil sie neutral ist. Sich jetzt Sanktionen anzuschliessen, würde dieser Eigenschaft widersprechen. Aber auch unabhängig der Neutralität der Schweiz ist die die individuelle Sanktionspolitik einzelner Staaten grundsätzlich anzuzweifeln. Es stellt ein paralleles Rechtssystem dar, das die EU und die USA nur deshalb bemühen, weil ihnen nichts Gescheiteres in den Sinn kommt.

Es ist naheliegend, dass Sanktionen gegen Russland mit dem OSZE-Vorsitz nur schwer vereinbar sind. Heisst das, dass die Schweiz ihre Aussenpolitik diesem vorübergehenden Mandat unterzuordnen hat?

Das wäre nicht richtig, aber das tut auch niemand. Die Eigenständigkeit der Schweiz hat ihr zum OSZE-Vorsitz verholfen, diese Eigenständigkeit muss sie sich bewahren. Wir müssen unser aktives Neutralitätsverständnis achten. Damit bewahrt sich die Schweiz davor, denselben Fehler zu machen wie die EU. Sie hat viel zu früh Partei ergriffen und ist deshalb als Mediator ausgefallen. Die EU ist dadurch mitverantwortlich für diese Krise.

Bisher durften russische Truppen in Grindelwald Gebirgsübungen durchführen, jetzt ist ihnen der Zugang in die Schweiz verweigert worden. Ist das nicht bereits eine Sanktion, die das Vermitteln erschwert?

Das ist ein nachvollziehbarer Schritt, der niemand vor den Kopf stossen wird.

Welche weiteren, sanften Möglichkeiten zur Intervention hat die Schweiz?

Etwa, indem die Schweizer Justiz Russland keine Rechtshilfe bei Verfahren leistet, die gegen Völkerrecht verstossen. In der Schweiz liegen Milliarden, die auf illegale Art in Russland beschafft worden waren und die in der Schweiz gewaschen wurden. Jetzt wäre der Moment, das zu unterbinden.

Wo liegt die Grenze zwischen schädlichen Interventionen und nötigem Druck?

Das ist keine exakte Wissenschaft. Grundsätzlich ist nur der Uno-Sicherheitsrat zu Sanktionen legitimiert, die die Schweiz mittragen müsste. Allerdings wird der Uno Sicherheitsrat keine Sanktionen beschliessen, weil Russland als Mitglied ein Vetorecht besitzt.

Auf der anderen Seite soll die Schweiz Russland im April einen Staatsbesuch abstatten, um die diplomatischen Beziehungen zu feiern. Verletzt das nicht auch das Gebot der Neutralität?

Jetzt ist nicht der Moment, mit Russland Beziehungspflege zu machen, das wäre unangebracht. Die Schweiz würde gegenüber den Europäern und den Amerikanern signalisieren, dass sie nicht über die nötige Distanz zu Russland verfügt. Mit einem Staatsbesuch würde sich die Schweiz klar dem Vorwurf der zu grossen Russenfreundlichkeit aussetzen. Die Schweiz darf keinesfalls so tun, als wäre der Einmarsch der Russen auf die Krim ein Kavaliersdelikt.

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Nachstehend die zweite Version des Interviews (wie sie auch im TA veröffentlicht worden ist):

Welche Reaktion sollte man von Putin erwarten, wenn man ihn unter Druck setzt?

Putin ist ein eiskalter Machtmensch. Er nutzt jede Schwäche seiner Gegner sofort. Die neue ukrainische Regierung hat anfangs den Fehler gemacht, den Schutz der russischen Minderheiten infrage zu stellen, ebenso die Gleichberechtigung deren Sprache sowie die Integration aller Teile der Ukraine in eine Regierung der «nationalen Einheit». Damit lieferte sie Putin einen Vorwand zum maskierten Einmarsch auf die Krim. Vor allem aber hatte der Westen schon vor mehr als 20 Jahren versprochen, dass sich die Nato nie bis an die russische Grenze ausdehnen werde. Seit Monaten dient sich die Nato der Ukraine an, obwohl diese sich gesetzlich zu einer Art Neutralität verpflichtet hatte. Die Nato flirtet auch nach der Revolution immer heftiger mit ihr, da darf man sich eigentlich nicht wundern, wenn der Kreml sich dies nicht gefallen lassen will.

Das klingt, als hätten Sie Verständnis für die russische Aggression?

Keineswegs, erklären bedeutet nicht rechtfertigen. Putins Annexion der Krim ist inakzeptabel. Sie stellt eine drastische Verletzung des Völkerrechts dar, auch eine Missachtung des Budapester Vertrages von 1994, als sich die Ukraine als Gegenleistung zu ihrer Bereitschaft, ihre Atomwaffen abzubauen, ihre Souveränität von allen internationalen Mächten, auch Russland, garantieren liess – dafür gibt es keine einzige Rechtfertigung. Aber auch in der internationalen Politik muss man verstehen, warum Unrecht geschieht. Das Unrecht, das derzeit geschieht, ist die Folge von vielen kleinen Fehlern, die über lange Zeit gemacht wurden. Deshalb wird man das Unrecht auch nicht von heute auf morgen so schnell korrigieren können.

Die Schweiz verzichtet, anders als die EU und die USA, vorerst auf Sanktionen gegen Russland. Ist die Schweizer Zurückhaltung feige oder klug?

Weder noch. Sie entspricht einfach der bisherigen neutralitätspolitischen Praxis der Schweiz, wonach sie sich – seit 1991 – Sanktionen nur zu Eigen macht, wenn sie vom UNO-Sicherheitsrat beschlossen worden sind. US- oder EU-Sanktionen gegen Russland sind für die Schweiz somit eine Nulloption. An die EU und die USA brauchen wir uns nicht anzulehnen. Im Gegenteil. Der Schweiz hat man den Vorsitz der OSZE nahegelegt, gerade weil sie neutral ist und vor allem weder der Europäischen noch der Nordamerikanischen Union angehört. Sich jetzt deren Sanktionen anzuschliessen, würde dieser Haltung widersprechen. Das heisst aber nicht, die imperiale Illegalität des russischen Handelns zu negieren oder zu beschönigen. Bundespräsident Burkhalter sollte dies vor dem Parlament deutsch und deutlich sagen, wie seinerzeit Bundesrat Cotti, als Serbien den Jugoslawienkrieg eröffnete. Aber auch unabhängig von der Neutralität der Schweiz ist die individuelle Sanktionspolitik einzelner Staaten ganz grundsätzlich höchst problematisch. Es stellt die Etablierung eines parallelen Rechtssystems dar, unterstellt Verantwortlichkeiten in sehr hierarchischen Umfeldern, spart die Hauptverantwortlichen aus und erlaubt auch keine überzeugenden Rechtswege. Es macht den Anschein, als ob die EU und die USA dies nur deshalb tun, weil ihnen zu spät nichts Gescheiteres einfällt.

Es ist naheliegend, dass Sanktionen gegen Russland mit dem OSZE-Vorsitz nur schwer vereinbar sind. Heisst das, dass die Schweiz ihre Aussenpolitik nach diesem vorübergehenden Mandat unterzuordnen hat?

Nein, das wäre falsch, aber das tut auch niemand. Die Eigenständigkeit der Schweiz hat ihr zum OSZE-Vorsitz verholfen, diese Eigenständigkeit wahrt sie nun. Sie handelt gemäss ihrem bisherigen aktiven Neutralitätsverständnis. Damit bewahrt sich die Schweiz davor, denselben Fehler zu machen wie die EU. Diese hat viel zu früh Partei ergriffen, der Integrität der Ukraine einen Bärendienst erwiesen und ist deshalb als Mediator ausgefallen. Die EU ist mitverantwortlich für die Eskalation der Krise.

Bisher durften russische Truppen in Grindelwald Gebirgsübungen durchführen, jetzt ist ihnen der Zugang in die Schweiz verweigert worden. Ist das nicht bereits eine Sanktion, die das Vermitteln erschwert?

Das ist ein nachvollziehbarer kleiner Schritt, der niemanden vor den Kopf gestossen hat.

Welche weiteren, sanften Möglichkeiten zur Intervention hat die Schweiz?

Etwa, indem die Schweizer Justiz Russland keine Rechtshilfe mehr gewährt bei Verfahren, die oft mehrfach die in der Europäischen Menschenrechts-Konvention – zu der sich Russland vor bald 20 Jahren auch verpflichtet hat – verletzen. In der Schweiz liegen Milliarden, die auf kriminelle und illegale Art in Russland beschafft worden sind und die in der Schweiz teilweise gewaschen wurden. Die Schweiz hilft bei Klagen zu oft den Kriminellen und nicht den Opfern. Jetzt wäre der Moment gekommen, damit endlich aufzuhören.

Wo liegt die Grenze zwischen schädlichen Interventionen und nötigem Druck?

Schwierig zu sagen. Denn dies ist keine exakte Wissenschaft. Grundsätzlich ist bisher nur der UNO-Sicherheitsrat zu Sanktionen legitimiert, welche auch die Schweiz verpflichten. Allerdings wird der UNO-Sicherheitsrat keine Sanktionen beschliessen, weil Russland dagegen das längst archaisch gewordene Vetorecht ausüben würde.

Auf der anderen Seite soll die Schweiz Russland im April einen Staatsbesuch abstatten, um die diplomatischen Beziehungen zu feiern. Verletzt das nicht auch das Gebot der Neutralität?

Jetzt ist nicht der Moment, mit Russland historische Beziehungen zu feiern. Das wäre meines Erachtens unangebracht. Die Schweiz würde gegenüber der Welt zeigen, dass es ihr an der nötigen Distanz fehlt – die sollte mindestens so gross sein wie die Distanz gegenüber der EU und den USA. Die Schweiz darf keinesfalls so tun, als wäre der Einmarsch der Russen auf die Krim ein Kavaliersdelikt. Dieser widerspricht allen Erkenntnissen für einen konstruktiven gegenseitigen Umgang unter Ländern, die keinen Krieg mehr provozieren wollen und deshalb auch nicht mit Gewalt und dem Feuer spielen sollten.


Kontakt mit Andreas Gross



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