27. Dezember 2013

AZ-Medien

Es gibt in Russland Hunderttausende, die ungerecht behandelt werden und die unsere Unterstützung nötig hätten


Die Fragen stellte Daniel Fuchs

Herr Gross, Sie haben Michail Chodorkowski als Berichterstatter für den Europarat besucht. Wie kam es dazu?

Andi Gross: Bis heute bin ich als für Russland zuständiges Mitglied der Monitoring-Kommission des Europarates regelmässig in Russland zu Besuch, das heisst mindestens zweimal jährlich, und spreche mit den Leuten über die Einhaltung der Menschenrechte. So auch mit meinem damaligen Kollegen im Dezember 2010. Für seinen zweiten Prozess war Michail Chodorkowski zur selben Zeit von einem Straflager in Sibirien zurück nach Moskau verlegt worden. Ich erinnere mich an ein Treffen mit dem Justizminister. Wir fragten um einen Besuch bei Chodorkowski an. Der Minister wollte nicht selber entscheiden und schickte einen Gefängnisdirektor vor, der das Treffen schliesslich bewilligte.

Woran erinnern Sie sich, als Sie den berühmtesten Häftling Russlands trafen?

Wir fuhren in ein Gefängnis in einem Moskauer Aussenquartier. Ich erinnere mich an einen kleinen Raum, nicht Chodorkowskis Zelle, sondern eine Art Besucherraum. Kein Tisch, nur Stühle, die im Kreis da standen. In diesem düsteren und kargen Raum hat mir Chodorkowski einen sehr bescheidenen, fast schon weichen und zugänglichen Eindruck gemacht. Er sah aber gut und gesund aus. Er spielte nicht vor, zu leiden, sondern versicherte uns, anständig behandelt zu werden.

Vor Journalisten bedankte er sich auch bei Ihnen für die Unterstützung. Warum?

Das kann ich noch nicht richtig beurteilen. Sehr wahrscheinlich wurde den Behörden durch unseren Besuch klar, dass wir auch seine Haftbedingungen im Auge behalten und er sich wehren könnte, wenn etwas falsch läuft. Wir versicherten ihm, wir wollten uns dafür einsetzen, dass er weiterhin anständig behandelt würde und bald frei käme.

Sahen Sie in den TV-Bildern den gleichen Mann wie vor drei Jahren?

Ja. Ihm ist anzurechnen, dass er keine triumphalistische Pose einnimmt und an alle anderen denkt, denen die genau gleiche Willkür widerfährt wie ihm. Dabei ist er auch nach all den harten Haftjahren in der Lage zu differenzieren: Er kritisiert die Willkür im russischen Staat, um gleichzeitig darauf hinzuweisen, dass Russland nicht mehr die Sowjetunion ist, die ihre Häftlinge im Gulag erfrieren lässt.

Sie hegen Sympathien für einen Mann, der nicht unschuldig ist. Wie andere Oligarchen hat er sich nach dem Zerfall der Sowjetunion auf Kosten anderer bereichert.

Chodorkowski's Leben und Performance bis anfangs 2000 war mir gar nicht sympathisch. Ich hege aber Empathie mit allen Leuten, die aus obrigkeitlicher Willkür inhaftiert sind und von einer Macht ungerecht behandelt werden. Natürlich: Chodorkowski hat wie die anderen Oligarchen Volkseigentum gestohlen, das heisst Hundertmal zu billig erworben. Jene, die Putin nicht in die Quere kamen, mussten nichts befürchten. Chodorkowski hat dies anders gemacht: Er wollte seinen Konzern Yukos nach westlichen Kriterien und mit einer entsprechenden Unternehmensführung aufbauen. Das tat er erfolgreich und wurde dabei sehr reich. Dann begann er, seinen Reichtum teilweise der Opposition zur Verfügung zu stellen. Erst damit hat er die rote Linie überschritten und die Willkür traf ihn mit voller Härte.

200 Millionen Franken sollen noch immer auf Schweizer Bankkonti lagern. Yukos-Gelder, die die Schweiz vor russischem Zugriff einfror. War das richtig?

Ja, sicher, weil die Entscheidungsträger in der Schweiz schliesslich richtigerweise erkannten, dass Chodorkowski ein politischer Häftling war. Folgerichtig wurde dem russischen Begehren nach einem Zugriff auf das Geld nicht stattgegeben. Die Schweiz spielt immer eine Rolle, wenn Geld gestohlen wird. Und das hat Chodorkowski wie alle anderen russischen Oligarchen in der Ära Jelzin getan. Wahrscheinlich auch dank der Schweiz hat Chodorkowski keine materiellen Sorgen.

Glauben Sie, dass Chodorkowski in die Schweiz ziehen wird?

Das ist denkbar. Hier verbringen nicht nur seine Frau und seine Tochter die Ferien und er kann hier Ruhe finden und sich erholen, sondern in der Schweiz winken auch seine übrig gebliebenen Millionen und eine attraktive Steuerpolitik: Je nach Kanton wird man ihm anbieten, sein Vermögen pauschal zu versteuern.

Um seine einstigen Yukos-Anteile will er nicht kämpfen, kündigte er an. Warum nicht?

Es ist interessant, dass er nicht darum kämpfen will. Ich verstehe diesen Verzicht nicht nur als Kalkül, sondern auch als Ausdruck einer gewissen leisen Selbstkritik. Vielleicht ist es aber einfach nur ein Teil des Deals, den er dank Genscher mit Putin einging.

Als eine Art Schuldeingeständnis?

Sein Verzicht und seine Ankündigung, sich mit Geld für die Wahrung der Menschenrechte in russischen Gefängnissen einzusetzen, lässt darauf schliessen. Ich denke, dass Chodorkowski das schlechte Gewissen plagt, weil er weiss, Ende der 1990er-Jahre das Volk zwar rechtmässig, aber doch eigentlich bestohlen zu haben.

Warum hat er trotz des baldigen Ablaufs der regulären Haftdauer ein Gnadengesuch gestellt?

Möglicherweise wurde ein dritter Prozess vorbereitet. Dass er indirekt um Gnade ersucht hat, ist eher darauf zurückzuführen, dass er seine krebskranke Mutter wiedersehen wollte.

Glauben Sie, dass an Chodorkowskis Freiheit Bedingungen geknüpft worden sind?

Ich gehe davon aus, dass Putin nicht einverstanden gewesen wäre, wenn Chodorkowski nicht versichert hätte, von der russischen Innenpolitik und dem Machtkampf abzusehen.

Wem verdankt Chodorkowski seine Freiheit: den Olympischen Spielen von Sotschi oder dem ehemaligen deutschen Aussenminister?

Wahrscheinlich beiden: Putin, der vor Olympia im Westen in einem besseren Licht stehen will, und den zweieinhalb Jahre dauernden Geheimverhandlungen unter der Führung Hans-Dietrich Genschers. Dieser müsste sich aber die kritische Frage gefallen lassen: Würde er sich auch für einen politischen Gefangenen einsetzen ohne berühmten Namen? Es gibt in Russland Hunderttausende, die ungerecht behandelt wurden und werden und die unsere Unterstützung nötig hätten.


Kontakt mit Andreas Gross



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