15. Sept. 2013

Deutschlandfunk

Es gibt in der Bevölkerung eine Fähigkeit zur Politik, einen Überschuss an demokratischem Können, der in der repräsentativen Demokratie nicht ausgelebt werden kann


Interview im Deutschlandfunk
zum Tag der Demokratie am 15.09.2013
Sonntagmorgen, 07.35 live


Mehr Demokratie wagen, das rief vor über 40 Jahren der damalige Bundeskanzler Willy Brandt den Deutschen zu und so ähnlich – nur etwas umständlicher formuliert – klingt auch, was UN-Generalsekretär Ban Ki-Moon zum heutigen internationalen Tag der Demokratie fordert, dass nämlich «demokratische Bildung für alle ermöglicht werden soll und das besonders für Staaten im Umbruch, die demokratische Bildung am meisten nötig haben». -- In Bayern können die Bürger den internationalen Tag der Demokratie richtig aktiv begehen, indem sie wählen gehen, und für uns hier in der Sendung 'Information und Musik' ist dieser Tag jetzt Anlass, um darüber zu sprechen, wie es um unsere Demokratie eigentlich bestellt ist. Am Telefon ist nun der Schweizer Politiker und Politologe Andreas Gross, Mitglied des Schweizer Nationalrates und der parlamentarischen Versammlung des Europarates, guten Morgen Herr Gross.

AG: Guten Morgen Frau Hondl.

Haben wir in Deutschland und Europa heute am Tag der Demokratie Grund zum Feiern, oder müssen wir uns Sorgen machen um unsere Demokratie?

AG: In Bayern sollte man wählen gehen, nur in dem Sinne kann man dann auch feiern. Aber der Zustand unserer europäischen Demokratie ist aus verschiedenen Gründen schlecht. Die Wahlen bringen oft, mit Ausnahmen vielleicht in Bayern, keine grossen Diskussionen mehr, das heisst, es gibt wenig Diskussionen über konkrete Themen und davon kann man dann auch schwer - wenn man eine Mehrheit hat - eine Politik ableiten, beziehungsweise legitimieren. Aber die ganz grosse Frage betrifft eines der grossen Versprechen der Demokratie, die gerechte Verteilung der Lebenschancen und dazu müsste die Demokratie auf die Verteilung der wirtschaftlichen Reichtümer der Menschen einwirken können und dafür ist sie zu national .Da die Wirtschaft schon lange europäisch und global ist. Dazu müsste man endlich das machen, was gewisse Gründerväter der EU durchaus wollten, nämlich eine europäische föderalistische Verfassung, so dass auch auf transnationaler Ebene Demokratie gewagt werden könnte.

Jetzt haben Sie schon ganz viel angesprochen, Herr Gross, und die Demokratiekrise hat ja auf jeden Fall viele Seiten, zum einen ist da das Primat der Ökonomie, die Macht der globalen Finanz- und sonstigen Märkte, der sich die europäische Politik unterordnet und dann ist da ja auch der Frust vieler Bürger, die sich von ihren demokratisch gewählten Vertretern dann irgendwie nicht so richtig gut vertreten fühlen und dann entweder das Interesse an der Politik verlieren oder sich als Wutbürger auf Strassen und Plätzen dort protestieren. Was ist denn Ihrer Ansicht nach der Kern dieser Demokratiekrise?

AG: Die Frustration ist tiefer, sie geht über die mangelnden Repräsentanten hinaus, das war schon immer so, dass die Menschen nicht zufrieden waren mit ihren Repräsentanten im Allgemeinen. Der Punkt ist, es gibt eine Fähigkeit zur Politik in der Bevölkerung, welche von den Institutionen gar nicht abgeholt wird. Es gibt einen Überschuss an demokratischem Können, der in der üblichen Demokratie gar nicht ausgelebt werden kann.

Und was verhindert dieses Ausleben, wodurch wird das konkret verhindert?

AG: Weil die Demokratie in Deutschland reduziert wird auf Wahlen alle vier Jahre und in einer sehr problematischen Art. Ich muss jetzt aufpassen eine Woche vor den Wahlen, da darf man nicht zu böse sein mit der ganzen Konstellation, aber wenn die Politiker gar nicht mehr kämpfen für ihre Überzeugungen und sie einfach denken, es geht mir gut und ich werde gewählt und dann mache ich was ich will, dann spielen sie foul, um es in der Fussballsprache auszudrücken. So holen sie sich nicht die Legitimation für ihre Politik, wofür die Wahlen eigentlich gedacht waren. Und gleichzeitig wissen die Menschen um gewisse Probleme viel besser Bescheid. Sie möchten auch differenzierter entscheiden, deshalb muss die repräsentative Demokratie, einer besseren Repräsentation wegen, um direktdemokratische Elemente ergänzt werden.

Sie sind ja ein grosser Verfechter dieses Schweizer Demokratiemodells, wo bei Volksentscheiden ...

AG: Achtung Frau Hondl, das ist kein Schweizer Modell, sondern eine französische Idee, die Direkte Demokratie, und sie wird in der Schweiz nicht optimal praktiziert. Die Deutschen haben mit Recht grosse Kritik an der Schweizer Demokratie geübt, zum Beispiel auch in Bezug auf das was Ban Ki-Moon richtigerweise gesagt hat, dass die demokratische Bildung fehlt, das gilt auch für die Schweiz. Die Schweiz hat auch kein Verfassungsgericht, welches die Menschenrechte schützt vor der Mehrheit. Das ist in Deutschland alles besser. Der Punkt ist, die Menschen sind in der Lage, über die Sozialversicherung oder die Atomkraftwerke differenziert an sich zu entscheiden und nicht alles zusammen in einer Wahl zu subsumieren, die dann eben keine grosse Kraft hat für ein einzelnes Thema, für eine bestimmte Politik, und darum ist die Ergänzung überfällig. Und es ist auch interessant, dass über 90% der Kandidaten im Bundestag eigentlich dafür sind, aber dann passiert wieder nichts bis zu den nächsten Wahlen.

Mehr Demokratie wagen hiesse das denn heute, auch mit allen Einschränkungen, die Sie genannt haben, mehr Schweiz wagen also?

AG: Es geht wirklich nicht um die Schweiz! Man muss die Schweiz kritisieren und trotzdem kann man für die Direkte Demokratie sein. Denn die Idee der Demokratie funktioniert wie ein Spiegel der Gesellschaft und der Spiegel kann nichts für das Gesicht, welches Sie jeden Morgen sehen. Und eine konservative Gesellschaft wie die Schweiz generiert eben konservative Entscheide. In Kalifornien sind die gleichen Instrumente viel progressiver. Und wenn Deutschland die Direkte Demokratie einführen würde, dann würde es lernen und die Fehler der Schweiz oder die Fehler der Kalifornier nicht nochmals machen und das wäre eine grosse Chance für die Demokratie und auch für die Identifikation der Bürger mit der Politik, die bis heute mangelhaft ist und eher erodiert als sich stärkt.

Also wäre Direkte Demokratie der Weg auf dem man Demokratie lernen kann, wie es auch die UNO fordert, mehr demokratische Bildung?

AG: Die beste Art und der beste Ort des Lernens ist die Praxis. Man lernt auch nur Schwimmen, indem man ins Wasser springt und das gilt auch für die Direkte Demokratie. Aber vor allem geht es darum, um anzuknüpfen an den Beginn unseres Gesprächs, regional und national die Identität und die Beziehung zur Politik wieder herzustellen über die Direkte Demokratie, so dass man die Kraft findet und den Mut, auf europäischer Ebene die Demokratie einzurichten. Nur mit Direkter Demokratie erreicht man noch zu wenig, aber es ist ein wichtiger Weg, um die Verwegenheit zu finden, mit anderen Europäern die europäische Demokratie einzurichten, was absolut nötig wäre. Es ist auch interessant, dass die CDU und die SPD in den 70er Jahren diese Perspektive hatten. Jetzt, da sie nötiger wäre denn je, wird sie nicht mehr diskutiert und das ist eine der grossen Schwächen momentan der deutschen Politik.

Mit Blick auf die Bundestagswahl am 22. September, da wird in Deutschland ja gerade auch über die Option nicht wählen gehen diskutiert. Wie stehen sie dazu, ist das demokratisch, bzw. kann es der Demokratie gut tun, wenn die Bürger aus Protest nicht wählen?

AG: Wenn sie gehört werden und wenn sie diskutiert werden, kann es eine Bedeutung haben. Es gehört zur Freiheit, sich nicht zu beteiligen. Das ist keine moralische Frage, sondern das ist eine Option. Ob man dadurch wirklich etwas verändert, was man verändern möchte, wenn man nicht hingeht, das ist eine andere Frage. Ich persönlich würde auch aus einem sehr beschränkten Angebot noch das wählen wollen, was mir am nächsten steht, aber dennoch im Bewusstsein, dass ich mehr kann und will als nur wählen.

Vielen Dank! Das war der Schweizer Politiker Andreas Gross am internationalen Tag der Demokratie.

(Abschrift A.N./ADD)


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