8. Juni 2013
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Diese Bürgerbewegung könnte ein Segen werden für die Türkei
Von Renat Künzi
Ursprünglicher Anlass waren Bäume, die Stadtbewohner in einem Istanbuler Park schützen wollen. Ist es ein Zufall, dass sich die Proteste an einem politisch unverdächtigen Objekt entzündeten und nicht etwa an politisch-gesellschaftlichen heissen Eisen wie Verhältnis Staat-Religion, Pressefreiheit, Bürger- und Menschenrechte, unabhängige Justiz etc.?
Das ist weder Zufall noch einzigartig. Denken Sie an den Massenaufstand in Stuttgart vor anderthalb Jahren: Lebensqualität soll nicht neuen Bauwerken geopfert werden. Menschen verteidigen Lebensräume, die sie immer mehr missen. Das ist ein mit Modernisierungsprozessen fast üblicher Konflikt: In einer Gesellschaft emanzipierter, selbständig denkender Menschen lassen sich diese nicht alles gefallen oder die Entwicklung vorschreiben. Sie wollen ihre Lebensräume mitgestalten und wehren sich, wenn etwas einzigartiges verloren zu gehen droht.
Die Proteste haben sich mittlerweile ausgeweitet zu einem Richtungskampf um die gesellschaftliche Entwicklung des Landes. Haben sie das Potenzial zu einer Massenbewegung oder werden sie auf urban-grüne, sehr junge Kreise beschränkt bleiben?
Sie sind bereits Teil einer Massenbewegung und haben ganz verschiedene Teile der Gesellschaft erfasst. Selbst die Gewerkschaften schliessen sich an. Und auch innerhalb der Regierungspartei reagieren nicht alle gleich. Es könnte das 68 der neuen Türkei sein, die massgeblich von der AKP aufgebaut und geprägt worden ist. Sie haben genug vom Autokratismus, die der Premier zu oft an den Tag legt. Sie rebellieren und wollen eine offene Gesellschaft, deren reale Demokratie der wirtschaftlichen Entwicklung entspricht.
Was könnten die politischen Folgen sein? Könnten sich innerhalb der Erdogan-Partei AKP die Gewichte vom Premier zu den offenbar moderateren Abdullah Gül (Staatspräsident) und Bülent Arinc (steilvertretender Ministerpräsident) verschieben? Was könnte dies für die Türkei bedeuten?
Diese Bürgerbewegung könnte ein Segen werden für die Türkei. Sie könnte ein einzigartiger Beitrag werden zur Demokratisierung der türkischen Demokratie, über die Wahlen und Institutionen hinaus, mit deren Verankerung in einer lebendigen vielfältigen Gesellschaft. Erdogan verkörperte bisher eine enorme Zentralität, Hierarchie, Autorität. Er hat noch nicht gelernt mit Kritik umzugehen, zu zeigen, dass er weiss, wie wichtig die Kritik ist, auch für ihn und seine AKP. Dass Widerspruch nötig und hilfreich ist. Dieser Bürgerprotest bietet ihm diese Chance. Selbstverständlich werden jene Teile und Personen in der AKP gestärkt werden, die dies verstanden haben. Sie werden so auch die AKP demokratisieren. Und möglicherweise könnten sie verhindern, dass in der neuen Verfassung ein Präsidialsystem eingerichtet wird, dass das bisher eher parlamentarisch ausgelegte System ersetzt. Dies hätte sich Erdogan erwünscht, auch für sich selber. Es könnte sein, dass dies bereits nicht mehr möglich sein wird.
Zur Rolle der Medien: Die kontrollierten türkischen Medien schauen weitgehend weg, an ihre Stelle treten unzählige Twitterer, denen Erdogan einen scharfen Kampf angesagt hat (bisher 29 Verhaftungen). Kann er dieses wichtige Medium der Demonstranten zum Verstummen bringen?
Dass wird ihm wie anderen autoritären Herrschern nie gelingen. Doch auch die grossen Fernsehkanäle haben versagt, was sie zum Wandel zwingen wird, wenn sie ihre Basis nicht weiter verlieren wollen. Viele werden lernen, dass man auf die Stimme ganz normaler Menschen achten und sie hören muss, wenn man seinerseits geachtet und respektiert werden möchte. --- Man kann auch sagen, dass mit dieser Bürgerinnen- und Bürgerbewegung der Aufbruch der neuen Türkei, die vor 12 Jahren die AKP angestossen und wirtschaftlich vorangebracht hat, die sich von der Armee und dem alten, dunkeln Machtkern zu emanzipieren verstand und jetzt auch sogar sich mit den Kurden zu verständigen vermag, jetzt auch die aufgeweckten und gut ausgebildeten, vor allem jüngeren Teile der türkischen Gesellschaft erreicht hat. Wenn sich Erdogan diesem Prozess verwehrt, dann wird er mittelfristig nicht länger die Rolle spielen können, die er in den letzten 12 Jahren erfolgreich für die Türkei wahrzunehmen verstand.
Kontakt mit Andreas Gross
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