03. Jan. 2013

SWISS Know-how
Arc Jurassien

Das Atelier für Direkte Demokratie in St-Ursanne:
Das ländliche industrielle Genie
macht den Jura in Europa einzigartig



Herr Nationalrat, als Zürcher Parlamentarier und Europapolitiker verfügen Sie über starke Wurzeln im Jura. Wie ist das gekommen?

Ich bin nur politisch ein Kind Zürichs; aufgewachsen bin ich einerseits in Japan und andererseits in Basel und dem Baselbiet mit Blick auf den Gempen, einem Gipfel des Baselbieter Juras. Das Dreiländereck – ich fischte mit meiner Grossmutter im Schwarzwald, beobachtete die Tiere mit meinem Grossvater im Elsass, kaufte per Tram in Lörrach Teile für meine Eisenbahnanlage und per Velo in Leymen französische Briefmarken - vermittelt einem in Basel im Unterschied zu Zürich einen transnationalen Horizont und eine Nähe zum Jura, in dem ich mit meinen Eltern und Schwestern immer wieder wandern gegangen war. Zürich vermag übrigens politisch Vielfalt besser zu integrieren und zu nutzen als Basel – so dass ich eigentlich ganz zufrieden bin diesem baslerisch-zürcherischen Humus als besonderen Mix, auf dem einige schöne politische Projekte zur Blüte gebracht werden können. -- Als ich nach der Scheidung vor 15 Jahren in ZH eine günstigere Bleibe für all meine vielen Bücher suchte – der Platz in Zürich ist zu teuer – bot sich auch dank der guten Verkehrsbindungen mitten im Herzen zwischen Bern, Zürich, Basel, Strassburg und Paris - den Orten, an denen ich in den letzten 30 Jahren gewiss am meisten politische Sitzungen besucht habe - und mit vielen freien und günstigen Wohnräumen St-Ursanne idealerweise an. So kam ich mit neuen Ideen und Perspektiven in Berührung und gleichsam zurück zu meinen Wurzeln.

Sie sind sehr an der Geschichte des Jura und insbesondere an dessen politischen und wirtschaftlich-industriellen Seiten interessiert. Was hebt die Täler des Jura aus der übrigen Schweiz hervor?

Den Jura machen ja nicht nur Täler sondern vor allem auch Hochebenen wie die Freiberge oder die weite Ajoie aus. Ebenso gibt es relativ enge Täler wie das vom Doubs geschaffene oder breite lange Hochtäler wie das Val de Ruz oder das Val de Travers. Es ist einerseits diese Vielfalt und andererseits die Weite und dünne Besiedlung sowie die Natur mit ihren vielen einsamen Orten, die die Landschaft des Jura so besonders machen, der ja viel grösser ist als der gleichnamige Kanton. Einzigartig an dieser Landschaft des Jurabogens ist aber das industrielle Knowhow, das sich hier in den letzten 200 Jahren entwickeln und behaupten konnte und das teilweise auch ein ganz besonders, libertäres und solidarisches politisches Bewusstsein schuf – nicht überall im Jura, aber in wesentlichen Teilen von ihm. Dieses ländliche industrielle Genie macht ihn in Europa einzigartig.

Und, etwas persönlicher gefragt: Was macht für Sie den Charme dieser Gegend aus?

Persönlich kann ich hier die Ruhe finden am Fluss, mitten in einem sehr alten Städtchen und doch alleine in der grossen Weite der einsamen Tannen und ewigen Wege zwischen ihnen. Dies ist zum schreiben, denken, diskutieren und auftanken ideal. Zudem finden sich hier noch bezahlbare Wohn- und Arbeitsräume. Die spezifische Zentralität des Jura hat sich in den Preisen glücklicherweise noch nicht niedergeschlagen. Für viele Deutschschweizer ist die gefühlte Distanz zum Jura grösser als die real geografische.

Sie sind nicht nur Nationalrat der sozialdemokratischen Fraktion, sondern Sie vertreten die Schweiz auch im Europarat und sind dort Fraktionspräsident der SPler. Wo sehen Sie den Jura im europäischen Kontext?

Er ist gewiss neben Basel und Genf der für und nach Europa offenste Teil der Schweiz. Das gehört zur politischen Identität des Jurabogens und seiner Bewohnerinnen und Bewohner aus sieben Kantonen, wovon drei deutschschweizerische sind! Zweitens hat der Jura wie gesagt eine in Europa einzigartige ländliche Industriekultur, in der feine Wunderwerke der Uhren- und Medizin-Branche hergestellt werden, die in der ganzen Welt berühmt und erstaunlich krisenresistent sind.

Seit1998 ist das Atelier für Direkte Demokratie in St-Ursanne domiziliert. Wofür setzen Sie sich als Leiter dieser Institution ein?

Der Begriff der Institution ist für das schöne Wort des Ateliers vielleicht etwas zu hoch gegriffen. Ein Atelier ist eher eine Werkstätte, in der vielfältig und kreativ gearbeitet wird. In meinem Fall gibt es im Atelier wohl eine der reichhaltigsten Bibliotheken der Schweiz zur Direkten Demokratie, Utopie und zu Europa. Die wollen wir auch elektronisch allen Interessierten zugänglich machen. Zweitens produzieren wir im Atelier die Bücher der Editions le Doubs zur schweizerischen und europäischen Politik, vor allem die schmucke Reihe Service Public und sind in der Schweiz der einzige Verlag, der ohne öffentliche Subventionen all diese Bücher gleichzeitig in den zwei wichtigsten Landessprachen herausgibt und so eine Brücke baut zwischen zwei politischen Öffentlichkeiten, die einander viel zu schlecht kennen und dadurch viel zu wenig voneinander lernen. Im März werden die beiden neuesten Bücher erscheinen zur kommenden Abstimmungen über die Wahlform des Bundesrates unter dem Titel «Volkswohl statt Volkswahl». -- Zudem wird im Atelier viel gedacht, geschrieben und Handlungsperspektiven werden entwickelt zur Analyse und Demokratisierung der Direkten Demokratie, ihrer notwendigen Transnationalisierung, beispielsweise einer Europäischen Verfassung, und der Notwendigkeit der Globalisierung der Demokratie, beziehungsweise der Demokratisierung der Globalisierung. Dazu nehme ich seit 20 Jahren Lehraufträge an europäischen Universitäten wahr, was ich auch nach meiner Zeit in den Parlamenten tun werde.

Und hegen Sie darüber hinaus weitere Pläne im Zusammenhang mit dem Jura?

Ja, gewiss. Es freut mich, dass ich zusammen mit dem Arc Jurassien, einer Organisation der Kantone und Gemeinden des Jurabogens, in den vergangenen zwei Jahren ein Projekt entwickeln konnte, das die geschilderte einzigartige und reiche ländliche Industriekultur vermehrt ins Bewusstsein trägt und als Humus aufbereiten möchte, auf dem ein neues gemeinsames Selbstbewusstsein entsteht ebenso wie entsprechende neue Projekte und Ideen. Wenn meine Vorschläge zur Visualisierung dieser Geschichte und dieser Kultur ebenso wie Formen ihrer Umsetzung in Zukunftsperspektiven Ende 2013 bewilligt werden, dann kann ich noch weitere 20 Jahre im Jura für seine Zukunft kreativ wirken!

Die Jurafrage ist nach wie vor nicht gelöst: Die vom Bund eingesetzte Interjurassische Versammlung hat unter anderem einen Projektvorschlag ausgearbeitet, der die Loslösung des Südjuras vom Kanton Bern zugunsten einer Vereinigung mit dem jetzigen Kanton Jura vorsieht. Wie sehen Sie als Bundespolitiker und Bewohner des Jura diesen Vorschlag?

Mich freut zunächst, dass sich alle Beteiligten gemeinsam und einvernehmlich auf ein mutiges Verfahren zur Konfliktbearbeitung einigen konnten. Das schafft eine positive Integrationsdynamik, die wertvoll ist. Freilich frage ich mich, ob der Zeitpunkt für die Entscheidung nicht zu früh angesetzt wurde. Denn was immer als nächstes beschlossen wird, es dürfte dauern – und das gilt auch für alle damit verbundenen Frustrationen. Ebenso frage ich mich, ob die anvisierten Grössenordnungen stimmen – ob nicht mehr Zeit in einen umfassenderen Integrationsprozess investiert werden sollte, welcher den geschichtlichen wie auch den ökonomischen ebenso wie den modernen lebensweltlichen Gegebenheiten und Notwendigkeiten besser entspricht als die neuen Teilungen und neuen Grenzlinien, die leider absehbar sind.

Die Jurafrage reicht mittlerweile bereits beinahe zwei Jahrhunderte zurück. Worum geht es eigentlich im Kern?

Die Spannungen sind viel älter und haben vor allem mit unterschiedlichen Glaubensfragen zu tun, die politisch instrumentalisiert worden sind. Im Grunde geht es um politisch willkürliche Trennungen in unterschiedliche Herrschaftsgebiete einer grossen kulturell und landschaftlich vielfältigen aber doch zusammengehörenden Region. Diese Gemeinsamkeit hat seit 500 Jahren keine gemeinsame politische Form finden können. Und in diesen 500 Jahren sind immer wieder von regionsfernen Kräften Trennlinien geschaffen worden, welche die fremden Interessen denjenigen der Bewohnerinnen und Bewohner der Region voranstellten.

Wie könnte für Sie eine einvernehmliche Lösung der Jurafrage aussehen? Und wie realistisch schätzen Sie die Möglichkeit dazu ein?

Wir vorher angetönt ist es wohl für die einvernehmlichste und die zukunftsträchtigste Möglichkeit noch zu früh. Deshalb macht es auch keinen Sinn, sie im Detail schon auszumalen. Wichtig, und das wird im Jura oft vergessen, braucht es auch politisch eine Einheit in der Vielfalt, das heisst Integration ebenso wie Dezentralisierung, ein grösseres Ganzes wie kleinräumige Selbstbestimmungsmöglichkeiten. Wichtig ist, dass die gemeinsame Lebenswelt mit dem einzigartigen ländlich industriellen Genie sich auch politisch gemeinsam organisieren und freiheitlich gestalten kann. Das wird wohl noch einige Jahrzehnte das politische Projekt bleiben, an dem wir arbeiten dürfen.

Herr Nationalrat, wir danken Ihnen für dieses Interview!

Der Herr ist vor allem im Jura im Himmel, Citoyen Gross reicht völlig. Aber ich danke auch Ihnen für das Interesse und die Diskussionsfreude.


Kontakt mit Andreas Gross



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