20. Nov. 2012

zeitgarten.ch

«Alleine kann das keiner bewältigen, aber es wäre für alle einfacher, wenn mehr Menschen daran arbeiten würden.»


Alex Meszmer im Gespräch mit Andreas Gross.

Der Schweizer Politikwissenschaftler, Historiker und Nationalrat Andreas Gross vertritt die Schweiz seit 1995 im Europarat. Als einer von wenigen Schweizer Politikern ist er direkt mit Fragen zur europäischen Politik in Berührung und setzt sich – unter anderem als internationaler Wahlbeobachter – für direkte Demokratie und die demokratischen Rechte aller Menschen ein. Das Interview mit Andreas Gross beleuchtet den historischen Hintergrund für die Entwicklung der Beziehungen der Schweiz zu Europa, Fragen nach einer gemeinsamen europäischen Kultur und welche Rolle Kultur oder Künstlerinnen und Künstler in der Gestaltung eines gemeinsamen Europas spielen könnten.

AM: Warum ist das Verhältnis der Schweiz zu Europa so schwierig?

AG: Die Schweizerinnen und Schweizer sind sich nicht bewusst, dass die moderne Schweiz ihre Existenz Europa zu verdanken hat. Die einzige gelungene bürgerliche Revolution in Europa im Jahr 1848 fand in der Schweiz statt. Wenn man genau sein will, hat die Revolution in der Schweiz bereits 1847 begonnen, als einzelne Protagonisten der Schweizer Revolution gespürt haben, dass im Jahr 1848 in ganz Europa viel passieren wird. Die Schweiz würde die Revolution nicht überleben, wenn sie ihre eigene nicht bereits hinter sich gebracht hätte. Deswegen haben die radikalen Liberalen ganz bewusst den Bürgerkrieg gegen die Konservativen gesucht und es im November 1847 zur Eskalation kommen lassen.

Du meinst den Sonderbundskrieg?

Genau. Ein amerikanischer Historiker hat über diesen Bürgerkrieg geschrieben, es sei ‘a very civil civil war’ gewesen. General Dufour hat seine Soldaten angewiesen, möglichst wenig Gegner zu töten und die Nummer zwei des Schweizer Militärs, der spätere Bundesrat Ochsenbein hat die Stadt Luzern nicht anzünden lassen, weil solche Gewaltakte nie vergessen und sich die so unterliegenden Menschen nicht in einen Bundesstaat integrieren lassen würden. Im Januar 1848 haben konservative Luzerner, die den Sonderbundskrieg verloren hatten, aus ihrem Exil in Domodossola den Fürsten Metternich um die versprochene Hilfe gebeten. Metternich hatte aber keine militärischen Ressourcen frei, weil die Demokraten im eigenen Reich mit der Revolution begonnen hatten. Die Revolution brach im Februar aus, erfasste ganz Europa und in Budapest, Prag, Paris, Mailand und Berlin haben die Demokraten verloren. Aber weil sie die Revolution versucht hatten, konnte Metternich nicht in der Schweiz aufräumen und der Schweizer Sieg gab der Niederlage der Demokraten im restlichen Europa einen Sinn. Dieser Hintergrund schafft einen anderen Blick auf das Thema Schweiz und Europa.

In diesem Sinn ist die Schweiz also so etwas wie ein politischer Motor für die Demokratie in Europa?

Ja – ohne Europa gäbe es die heutige moderne Schweiz nicht und die Schweiz nimmt eine Pionierrolle der Demokratie in Europa ein. Die Schweizer haben im Jahr 1848 ein Parlament gewählt und über die Verfassung abgestimmt. Später haben sie die direkte Demokratie erkämpft – 1871 das Referendum und 1891 das Initiativrecht. Die Erfahrungen mit den Unzulänglichkeiten der repräsentativen Demokratie konnten andere Europäer erst im 20. Jahrhundert machen. Die offene Schweiz wollte 1848 nicht einfach einen privilegierten Zustand erreichen, sondern den Grundstein für ein demokratisches Europa legen. Daher stimmt, was du gesagt hast, dass die Schweiz eine Art Motor war. Die anderen Europäer haben die Schweiz auch so verstanden. Deswegen hat Freiligrath Gedichte geschrieben, in denen es in den Bergen anfängt zu blühen und glühen. In der Literatur hat sich die Schweizer Pionierrolle niedergeschlagen.

Warum spürt man von dem europäischen Impetus der Schweiz heute nichts mehr?

Der deutsch - französische Krieg war 1870/71 der Anfang vom Ende dieses 1848er Geistes. Es war der erste Krieg seit der Existenz des Schweizerischen Bundesstaats zwischen den beiden Referenzkulturen und hat der Neutralität eine innenpolitische Dimension gegeben. Die Neutralität der Schweiz hatte der russische Zar 1815 während des Wiener Kongresses im Interesse aller europäischen Grossmächte vorgeschlagen, als Grundbedingung für die Anerkennung der Schweizer Staatlichkeit im Interesse der Grossmächte. Preussen, Russland, England, die Habsburger und die Franzosen wollten nicht, dass die Schweiz ein Ort der Anderen wird. Die Neutralität war eine aus strategischen Gründen aussenpolitisch aufgedrückte Notwendigkeit. 1871 bis 1945, während der drei grossen Kriege in Europa, die immer zwischen den beiden Referenzkulturen Deutschland und Frankreich stattgefunden haben, hat die Neutralität eine innenpolitische Überlebensdimension bekommen. Deswegen hat unser Land zwischen 1870 und 1945 an europäischer Bedeutung verloren und sich eingeigelt. Selbstverständlich überlebte die Schweiz den zweiten Weltkrieg, weil man sich allen gegenüber nützlich gemacht hat. Im realen Leben hat man ‘grausam klug’ gehandelt, wie Dürrenmatt sagte. Nachdem es gelungen war grausam klug zu handeln, hat man sich aber nie eingestanden, dass man notgedrungen unmoralisch gehandelt hatte. Die Schweiz hat danach die politische Dimension der europäischen Integration vollkommen verkannt. In einem belgischen antifaschistischen Widerstandsblatt von 1942 steht, Europa solle nach dem Krieg das Gleiche machen wie die Schweiz 1848 und einen europäischen Bundesstaat gründen. Aber die Schweizer meinten nach 1945, darum müssten sie sich nicht kümmern, sie könnten wie stets seit 1870 allein am besten alles überleben. Damit ist die Tragik des Verhältnisses CH/Europa zusammen gefasst.

Ist nicht auch eine Grundproblematik der EU an sich, dass sie eigentlich von einem Wirtschaftsraum ausgeht und nicht von einer ‘Willensnation’?

Die Demokraten und Revolutionäre sind im zweiten Weltkrieg in ihren Gefängnissen gesessen und haben sich Europa vorgestellt …

Das ist ein interessantes, fast ein schönes Bild.

Sie haben gewusst, dass in Europa etwas Neues entstehen muss, das verhindert, dass es zu einem dritten Weltkrieg kommt. Sie haben sich einen föderalistischen demokratischen Bundesstaat auf Verfassungsbasis vorgestellt. Warum ist es nie dazu gekommen? Der Nationalismus, der immer der Vater des Krieges ist, hatte den Weltkrieg intakter überlebt, als es sich die Pioniere vorstellen konnten. Sie meinten 60 bis 100 Millionen Tote, die seit 1914 Europas Gewalten zum Opfer fielen, hätten den Nationalismus ausreichend diskreditiert, so dass die Vorstellung Souveränität zu teilen und auf verschiedenen Ebenen anzusiedeln für sie selbstverständlich war. Aber das war bei der Mehrheit der Europäer nicht der Fall. Der kalte Krieg und die neue Systemkonkurrenz zwischen der Sowjetunion und den USA gab Europa gar nicht die Souveränität, sich eine eigene Verfassung zu geben. Ausserdem wollten es die beiden Grossmächte nicht. Monnet und Schumann, die Väter der EU, hatten gemerkt, dass ein Verfassungs-Europa historisch nicht möglich ist, und die Grundidee der europäischen Integration anders verwirklicht werden muss. Also hat man statt einer Verfassung einen Vertrag gemacht. Eine Verfassung ist eine Vereinbarung zwischen den Bürgern. Ein Vertrag ist eine Vereinbarung zwischen den Regierungen, der das Parlament noch zustimmen muss. Man kann das relativ einfach durchführen. Statt die Politik vorauszuschicken, hat man die Wirtschaft benutzt und die Kernindustrien der kriegführenden Staaten fusioniert, damit sich die Staaten nicht mehr bedrohen können. Europa hat eine segensreiche Kraft auch für die Bürger entwickelt, aber es ist ein Eliteprojekt geblieben. Die Pioniere hätten sich nie vorstellen können, dass man einmal eine gemeinsame Währung ohne gemeinsame Demokratie und eine gemeinsame Wirtschafts- und Steuerpolitik hätte – die eigentlichen Voraussetzungen für eine funktionierende Währung. Man muss auf die Vorgeschichte verweisen um zu erkennen, dass der Weg der EU ein Umweg gewesen ist.

Ist das Hauptproblem zwischen der EU und der Schweiz, dass die politischen Kulturen so entgegengesetzt sind?

AG: Ja, in dem Sinn, dass die Kontinuität von 1848 bestehen blieb. Wir hatten das Privileg, dass die Schweiz eine direkte Demokratie geworden ist. Diese Errungenschaft will man nicht verlieren, aber, und die ist entscheidend, ein Nein zu Europa und zur transnationalen Ebene schützt die direkte Demokratie zuhause auch nicht. Die Krise der Demokratie besteht darin, dass der Nationalstaat immer weniger Autonomie hat um selbstständig Probleme zu lösen. Ein Nein zu Europa ist kein Ja zu einer guten Demokratie. Das Ja zu einem reformierten umgebauten Europa wäre das Richtige. Wenn die Demokratie auch in Zukunft auf den Nationalstaat beschränkt wird, wird sie erodieren, so wie der Staat und die staatliche Autonomie erodieren. Man kann sagen, dass heute kein Staat allein der Wirtschaft sozial- und umweltverträgliche Grenzen setzen kann. Da ist auch die EU zu klein. Nur ist die EU ein wesentlicher Faktor und es braucht eine Globalisierung der Demokratie, die anders verlaufen wird, als einfach die Bildung eines grossen Staates. Die Demokratisierung der EU ist ein wesentlicher Schritt. Die EU braucht nicht nur mehr Demokratie, sondern die Demokratie braucht auch die EU, weil die Demokratie ihr Versprechen nur etablieren kann, wenn sie die transnationale Ebene erfasst. Der Nationalstaat ist nicht die letzte Etappe der Demokratie.

Sind Bewegungen wie Stuttgart 21 und Occupy Anzeichen für Demokratisierungsbewegungen, die eine Veränderung in Gang setzen?

Der spanische Widerstand ist eigentlich der reifste, weil er eine echte Demokratie will und Demokratie als unvollendetes Projekt nicht vergessen hat. Stuttgart 21 ist aus zwei Gründen wichtig: die Schweizer Minarettinitiative hat die direkte Demokratie in Deutschland vollkommen diskreditiert. Stuttgart 21 steht heute für die Einsicht vieler Deutscher, dass man das repräsentative System um direkt demokratische Elemente ergänzen sollte. Auf der anderen Seite zeigen die europäischen Bewegungen und Occupy, dass das Wesentliche der Demokratie entlaufen ist und sich die Ökonomie schon lange aus dem Zugriffsbereich der Demokratie verabschiedet hat. Demokratie ist die einzige Möglichkeit eine vernünftige politische, öffentliche Ordnung zu schaffen. Aber die Ausgestaltung der Demokratie ist unzulänglich. Sie muss sich weiter entwickeln um die heutige Welt zu demokratisieren, das bringt Occupy zum Ausdruck.

Aber fehlt es in Europa nicht an einer gemeinsamen Kultur?

Es braucht ein gemeinsames Rückgrat über das Verständnis von Politik. Es stimmt, das ist ein grosses Problem, das unterschätzt wird. Viele Europäer leiden unter dem herrschenden nationalen Zentralismus und können sich gar nicht vorstellen, dass Europa anders als zentralistisch gebaut werden könnte. Zum Dezentralen oder Föderalistischen gehört, dass kleinere Einheiten autonome Handlungsmöglichkeiten haben: Steuern, Kulturpolitik, Gesundheitspolitik können national oder regional bleiben und müssen nicht alle vollständig in Brüssel bestimmt werden. Es braucht eine gemeinsame politische Kultur im Sinne eines gemeinsamen politischen Rückgrats, aber die Vielfalt der politischen Äste muss erhalten bleiben. Das heutige Markteuropa bringt viel mehr Einförmigkeit hervor, als dies ein bundesstaatlich integriertes Europa tun würde, das möglichst viel Entscheidungsgewalt beim Bürger beliesse.

Mit einer gemeinsamen Kultur meine ich auch, europäisch denken zu lernen. Bei den europäischen Künstlerverbänden erlebe ich immer wieder, dass nationales Denken vorherrscht und kaum jemand europäisch denken kann.

Und das in der Kunst! Das ist doch absurd! Es gibt doch nichts Transnationaleres als Kunst! Die Künstlerinnen und Künstler wären prädestiniert, einerseits die Irrelevanz der nationalen Grenzen zu zeigen und gleichzeitig das Potential der gesellschaftlichen europäischen Integration zu illustrieren! Das sind Gründe, die für die direkte Demokratie sprechen. Es gibt ein politisches und gesellschaftliches Know-how, das traditionell institutionalisierte Politik gar nicht abschöpfen kann, weil Menschen in die politischen Entscheidungsprozesse nicht einbezogen werden. So kann die Politik gar nicht das hervorbringen, was die Gesellschaft eigentlich zu schaffen vermöchte . Die Ausgeschlossenheit der Menschen erlaubt ihnen nicht an Lernprozessen zu partizipieren, die es braucht um adäquate politische Entscheidungen zu treffen. Dafür braucht es eine Gesellschaftsbezogenheit oder eine politische Verantwortung von Künstlern, an solchen gemeinsamen europäischen Demokratieprojekten zu arbeiten und sich an ihnen zu beteiligen. Ich habe manchmal das Gefühl, dass es in der Wissenschaft und der Kunst sehr wenig Unterstützung für die Demokratie gibt. Anscheinend kapitulieren zu viele Menschen vor der Grösse der Aufgabe und versuchen gar nicht erst, einen Beitrag zu leisten. Allein kann das keiner bewältigen, aber es wäre einfacher, wenn mehr Menschen daran arbeiten würden.

Wäre das deiner Meinung nach eine Aufgabe für Künstlerinnen und Künstler?

Viele Schweizer haben einen rousseauschen Reflex, dass Europa zu gross sei für die direkte Demokratie. Aber der kleinste Schweizer Kanton war am längsten undemokratisch und jeder weiss, dass nicht die Dorfluft, sondern die Stadtluft frei gemacht hat. Man braucht eine gewisse Anonymität um frei zu sein. Das wäre jetzt eine klassische kulturelle Aufgabe, denn es ist eigentlich ein kultureller Einwand, dass Grösse auf die Geografie reduziert wird ohne zu merken, dass Grösse ein kultureller Begriff ist. Schweizer meinen auch, nur sie hätten gerne Volksrechte. Unterwegs in Europa merke ich, dass die Menschen überall in Europa mitbestimmen möchten. Dass die sogenannten Anderen viel weniger fremd sind und uns viel mehr gleichen, dass heute in Europa die gleichen Sehnsüchte und Kritiken allgemein verbreitet sind. Das zu vermitteln und in das Bewusstsein zu holen, kann man als kulturelle Aufgaben verstehen. Künstlerinnen und Künstler könnten einen wesentlichen Beitrag leisten, um solche mentalen Barrieren abzubauen. Schweizer Künstler kommen mir so vor, als seien sie in einer Phase vergleichbar mit vielen deutschen Künstlern in der Weimarer Republik. Die Brutalisierung, die in der Schweizer Politik in den letzten fünfundzwanzig Jahren stattgefunden hat, ist so degoutant und abstossend, dass man sich fernhält und sich die Finger nicht schmutzig machen möchte. Wenn man sich politisch engagiert, muss man sich aber dem Gegenwind aussetzen. Dieser Anstrengung weichen heute viele aus.

Sind die Künstler zu sehr mit sich selbst beschäftigt?

Die Sensibilität von vielen Kunstschaffenden würde sie dazu prädestinieren, dass sie eben auch die Brutalisierung thematisieren würden, die die Schweizer Politik enorm erfasst hat. Die Kluft zwischen dem gesellschaftlichen Potential und dem was die Politik daraus realisiert, ist doch absolut offensichtlich. Die Künstler könnten auf die Kluft aufmerksam machen und den Bürgerinnen und Bürgern sagen: Jetzt macht endlich mal etwas und was anderes daraus! Reduziert euch nicht auf einen Krisendiskurs! Auf der anderen Seite ist es sicher so, dass im Leben von vielen Schweizer Künstlern Europa eine tägliche Realität ist und die nationalen Grenzen keine Rolle mehr spielen. Sie wollen ja auch in ganz Europa gern gesehen, verkauft oder gelesen werden. Aber sie ziehen daraus keine politischen Konsequenzen: Statt ihre Energie dafür einzusetzen die Politik zumindest einmal mit zu nehmen, überlassen sie diese denen, die auch mit der Kunst nicht viel am Hut haben.

Wo liegen die Grenzen von Europa?

AG: Die Grenzen von Europa sind auf jeden Fall nicht geografisch zu definieren. Das heisst Russland ist ein europäischer Staat, obwohl mehr als die Hälfte ausserhalb von Europa liegt. Das südliche Ufer des Mittelmeers gehört auch dazu. Europa ist überall dort, wo die Kernwerte der europäischen politischen Kultur: Menschenrechte, Demokratie, Rechtsstaat und soziale Markwirtschaft praktiziert, zumindest respektiert werden. Dazu kann die Türkei gehören, die Ukraine, Russland, Marokko, Tunesien oder auch Ägypten wenn sie wollen. Wenn nicht, werden sie versuchen, bewusst etwas zu sein, das das Gute aus Europa herausholt und etwas Nicht-europäisches hinzufügt, zum Beispiel die Bedeutung der Religion auch für die staatliche Ordnung. Auf jeden Fall hat es nichts mit der Geografie zu tun, sondern mit der Organisation und der Umsetzung von Werten, die eigentlich universeller Natur sind und die Würde des Menschen zum Kern haben. Man muss sie nicht überall gleich gebrauchen. Die Umsetzung und Achtung kann unterschiedliche Formen annehmen – auch andere als die in Europa gängigen Formen.


Kontakt mit Andreas Gross



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