15. November 2012

WoZ - Wochenzeitung

Uns bricht die Demokratie weg, und damit
ein konstitutives Element des Friedens



Offensichtlich ist die heutige Situation nicht per se mir 1912 vergleichbar. Wo sehen Sie dennoch Anknüpfungspunkte und Parallelen in der internationalen und europäischen Politik? Geht es heute auch um ähnliche Probleme wie damals? Wo gibt es Unterschiede?

Es gibt mehr Parallelen als manche sich bewusst sind. Wir sind wieder in einer strukturellen Übergangsphase mit einer hohen Konfliktintensität – alte Ordnungen lösen sich auf, neue sind noch nicht entstanden. Unsicherheit, Präkarität, Ängste vieler sind gross – damals wie heute. Im Unterschied zu vor 100 Jahren haben wir heute in Europa eine supranationale politische Struktur, die zu halten scheint und die gewaltsame Austragung der enormen Interessenkonflikte verhindert.

Für mich ist der Basler Kongress 1912 aber deshalb ein Jahrhundertereig­nis, das unerhört aktuell ist, weil damals eine enorme Kluft auftat zwischen der radikalen Anti-Kriegs-Rhetorik der linken Par­tei­spitzen und der Art, wie nur zwei Jahre später Millionen von Menschen, die zu vertreten die linken Partei­spitzen in Basel beanspruchten, dem herrschenden Nationalismus erlagen und massenhaft sogar begeistert in den Krieg zogen gegen die Arbeiter­mas­sen anderer Staaten.

Auch heute greift der Nationalismus wieder viel mehr um sich, als uns bewusst ist. Auch heute gibt es wieder eine riesige Kluft zwischen der Rhetorik - auch linker - Eliten und dem tatsächlichen Bewusstsein derer Basen.

Oder mit anderen Worten: Auch heute haben wir wiederum transnational einen enormen gesellschaftlichen radikalreformerischen Handlungsbedarf, der ein politisches Bewusstsein bei den Millionen von Europäern voraussetzt, das manchmal rhetorisch von einigen behauptet wird, von den meisten aber kaum realisiert wird.

Weshalb diese enorme Diskrepanz? Weshalb diese Widersprüche? Wes­halb entspricht die Einstellung an der Basis nicht der Rhetorik an der Spitze? Weshalb bringt die Rhetorik an der Spitze nicht die Lage an der Basis zum Ausdruck? Weshalb war damals diese Diskrepanz nur wenigen bewusst? Weshalb thematisieren wir sie heute nicht? Was können wir heute anders und besser tun, um diese Kluft aufzuheben? Haben wir die Möglichkeiten dazu? Welche wären dies?

Heute fehlen der Linken – besonders in der Schweiz, teilweise aber auch in ganz Europa - die Ressourcen, die Medien, die Bildungseinrichtungen, welche die Wege wären, auf denen und mit denen diese Widersprüche abzubauen wären. Gleichzeitig sind Millionen von Menschen von zu viel Lohnarbeit oder paradoxerweise mangelnder Lohnarbeit so erschöpft, dass sie die geistigen und diskursiven und organisatorischen Anstrengungen, welche die Aufhebung dieser Kluft notwendig macht, nicht aufzubringen vermögen.

Mit dem Basler Friedenskongress der Zweiten Internationale positionierte sich die europäische Linke scheinbar geschlossen gegen den Krieg (zwei Jahre später waren die Beschlüsse ja allerdings Makulatur): Wo sehen Sie die Unterschiede zwischen der europäischen Linken 1912 und 2012? Sind es grundsätzlich neue Fragen, die sich ihr stellen? Und hat sie darauf grundsätzlich neue Antworten?

Organisatorisch ging es der Linken damals scheinbar besser als heute. Sie konnte ganz anders mobilisieren als heute. Die Fronten waren scheinbar klarer, der Vektor einheitlicher und deutlicher, die Ablenkungen kleiner. Und dennoch war die geschilderte Diskrepanz schon damals gross.

Die Form der Partei war damals schon in einer Krise. Damals glich sie noch mehr als heute einer militärischen Organisationsform, mit einer klaren verti­kalen Hierarchie und wenig innerer demokratischer Auseinandersetzung – deshalb auch die riesige Kluft zwischen Anspruch und Wirklichkeit, zwischen Rhetorik und realer Macht und realem Handlungsvermögen gegen die bürgerlichen Staatsspitzen.

Auch heute haben wir noch keine Parteiform gefunden, welche die Individua­li­tät angemessen mit einer gemeinsamen Lern- und Handlungsgemeinschaft so verknüpfen kann, dass das Ganze mehr ist als die Summe der Einzelnen. Transnational gilt dies auch 100 Jahre später immer noch, obwohl heute dank der EU und dem EP bedeutende Mittel für eine andere Form der transnationalen Durchdringung vorhanden wären.

Damals brachte die unmittelbare Entfesselung der Gewalt die Europäer ganz um den Frieden; heute bricht uns die Demokratie – ein anderes konstitutives Element des Friedens – weg, weil die Autonomie des Staates im wesent­lichen erodiert ist. Beides – und darin liegt die enorme Parallelität – würde transnationales millionenfaches bürger- und bürgerinnenspezifisches Handlungsvermögen bedingen zur Verhinderung von noch mehr Gewalt - verstanden immer als Minderung von Lebenschancen - und zur Re-Etablie­rung von Demokratie. Und doch scheinen wieder mehr dem simpler zu findenden und zu habenden Nationalismus anheim zu fallen.

Darin liegt die depressive Parallelität, die auch im neuen Buch zum Basler Kongress viel zu wenig deutlich herausgearbeitet wird. Immer wenn es mit der echten Demokratie hapert – 1912 war sie real noch nicht gewonnen, heute sind wir daran, das, was wir hatten, wieder zu verlieren – kommt der Nationalismus auf, als quasi-religiöse Glaubensalternative zu den real fehlenden Handlungsmöglichkeiten.

Die Delegierten vom Kongress von 1912 sahen den Krieg als Bedrohung für die Arbeiterklasse, die unter dem Massenmorden am meisten Opfer bringen würde. Andererseits sah der radikale Flügel im Krieg auch eine Chance für einen revolutionären Umbruch der bestehenden Ordnung. Ist die heutige Krise mehr existenzielle Gefahr oder auch Chance für die Linke?

Die heutige Krise ist wieder eine riesige existenzielle Gefahr für die Linke. Ihre Unfähigkeit, transnational zu handeln und neu zu konstituieren, was national an Macht verloren geht, demobilisiert und schwächt enorm.

Ich würde auch nicht wie Sie Lenins Flügel von damals als den «radikalen Flügel» von damals bezeichnen. Radikal waren damals jene, welche die Kriegserklärungen der bürgerlichen Mehrheiten mit dem Generalstreik beantworten und so die bürgerliche Mehrheit real leer laufen lassen wollten. Das wurde in Basel gleichsam versprochen von der Internationale. Und dazu in der Lage, beziehungsweise auch nur willens, erwiesen sich 1914 nur ganz wenige. Das ist die enorme Diskrepanz, die uns beschäftigen muss.

Heute müsste diese radikale Linke eine echte europäische Verfassung erkämpfen, welche die transnationale Demokratie etabliert. Nur diese kann die ausser Rand und Band geratenen Finanz- und anderen Wirtschafts­märk­te im Interesse der Mehrheiten unter den Menschen und der Nachhaltigkeit der natürlichen Lebensgrundlagen zivilisieren und zähmen.

Welches sind für Sie allgemein die "Lehren", die man aus dem Friedens­kon­gress 1912 (und dem Kriegsausbruch zwei Jahre später) ziehen kann? Wie könnte man diese Erkenntnisse nutzbar machen?

¨ Dazu steckt, glaube ich, in meinen bisherigen Antworten schon mehr als Sie gebrauchen können in Ihrem leider viel zu kurzen WOZ-Artikel.


Kontakt mit Andreas Gross



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