10. Mai 2012

WochenZeitung
WoZ, Zürich


Das Interview
als Hörtext

«Ohne EU lässt sich die Demokratie nicht retten»


Banken und bürgerliche PolitikerInnen verlangen den finanzplatz­patrio­ti­schen Schulterschluss. Dagegen sagt Andreas Gross, SP-Nationalrat und Mitglied des Europarats, warum das Bankgeheimnis die Demokratie ge­fährdet, wie die Schweiz mit der EU umgehen sollte und was die SP falsch gemacht hat.

Von Carlos Hanimann, Yves Wegelin

WOZ: Herr Gross, kürzlich verabschiedete der Europarat eine Resolution ge­gen Steuerparadiese, die in der Schweiz einen kurzen Aufschrei der Empö­rung verursachte. Sie haben als einziges Schweizer Europaratsmitglied für die Resolution gestimmt. Warum?


Andreas Gross: Weil in der Resolution vorgeschlagen wird, dass man in allen 47 Ländern des Europarats eine Steuergesetzgebung und ein Ban­kenrecht einführen sollte, das den Interessen der grossen Mehrheit der ehr­lichen Steuerzahler in all diesen Ländern entspricht. Niemand soll irgend­wo dazu verlockt werden, zu Hause keine Steuern zu zahlen. Zudem werden in dieser Resolution Dinge vorgeschlagen, die an eine der besten SP-Arbei­ten erinnern: die Bankeninitiative, die 1978 nach dem Chiasso-Skandal der damaligen SKA lanciert wurde. Schon damals verlangten wir ein Banken­we­sen, das den Interessen der Mehrheit dient und das Diktatoren nicht dazu einlädt, Geld hier zu parkieren, das sie ihrem Volk gestohlen beziehungsweise vorenthalten haben.

Andere Schweizer Linke im Europarat haben der Resolution nicht zugestimmt.

Aber auch nicht dagegen! Die Schweiz hat im Europarat sechs Stimmen. Die zweite linke gehört SP-Ständerätin Liliane Maury Pasquier. Sie trat ihre Stim­me dem grünen Waadtländer Ständerat Luc Recordon ab, der im Europa­rat Mitglied der von mir präsidierten SP-Fraktion ist. Recordon hat in seinem Votum zum Ausdruck gebracht, dass er der Resolution mit Vorbehalten zustimmt. Da diese Zustimmung insgesamt nicht gefährdet war und er nach Bern musste, ist er noch vor der Abstimmung aus Strassburg abgereist.

Ihnen wird jetzt vorgeworfen mitzuhelfen, die Schweiz zu isolieren.

Das Gegenteil ist wahr: Ich zeige Europa, dass es auch in der Schweiz Leute gibt, welche die Interessen der grossen Mehrheit der in Europa lebenden Menschen verstanden haben und daran mitarbeiten, dass auch die Schweiz sich verändert und diesen Interessen entsprechend handelt. Zudem gehöre ich zu denen, die zeigen, dass die Schweiz eine vielfältige Gesellschaft ist – und nicht nur eine Bankenvereinigung.

Aber dass Sie als einziger Schweizer der Resolution zugestimmt haben, hat Ihnen viele negative Reaktionen eingebracht.

Klar, in der Presse erfuhr ich einige Kritik. Wenn man nur den veröffentlichten Reaktionen Glauben schenkt, könnte man tatsächlich meinen, die Banken­in­te­ressen seien schweizerische Interessen. Dies ist aber nur ein weiterer Ausdruck der Krise der politischen Öffentlichkeit in der Schweiz. Es wird viel zu schnell vereinfacht, man reagiert nationalistisch und wenig reflektiert. Früher haben wir gegen die These gekämpft, dass die Schweiz nicht nur eine Armee habe, sondern eine sei. Heute kommt es mir ähnlich vor. Es heisst: Die Schweiz hat nicht nur eine Bank – sie ist eine.

Im umstrittenen Europaratsbericht kommt die Schweiz eigentlich nur am Rand vor. Warum die Aufregung über den angeblichen Angriff auf die Schweiz?

Das habe ich mich auch gefragt: Warum übernehmen die Medien diese dumme, nationalistische Spielanlage «Alle gegen uns»? Ich habe gedacht, man habe in der Schweiz gelernt, dass die Kritik an einer Sache nicht gleichbedeutend ist mit einem Angriff auf das ganze Land. Offenbar ist dem noch nicht so. Diese mangelnde Gelassenheit deutet auf ein schlechtes Gewissen hin: Man reagiert dann unangemessen, wenn man sich auf die Füsse getreten fühlt.

Müssen wir ein schlechtes Gewissen haben?

Das Gewissen ist eine individuelle Sache. Das muss jeder selber wissen. Dürrenmatt meinte einmal, die Schweiz sei im 20. Jahrhundert «grausam klug» gewesen. Ich wünsche mir im 21. Jahrhundert eine ebenso kluge, aber weniger grausame Schweiz. - Erst vor drei Jahren erklärte beispielsweise die grösste Schweizer Bank, die UBS, man werde sich künftig in den USA an die Gesetze halten. So eine Aussage ist doch erschütternd! Was für 99 Prozent der Menschen selbstverständlich ist, propagiert eine der grössten Firmen der Schweiz als grosse Neuerung. - Viele wissen in der Schweiz, was falsch läuft. Aber zu viele fürchten sich vor den notwendigen Reformen. Das führt zu einer Unfähigkeit, kühl darüber nachzudenken und zu diskutieren. Ich kann mir dieses Verhalten nur so erklären: Es ist eine Mischung aus wirtschaftlicher Kurzsichtigkeit, politischer Blindheit, Egoismus, unbewältigter Vergangenheit und schlechtem Gewissen.

Sie gelten als Nestbeschmutzer, der den finanzplatzpatriotischen Schulter­schluss nicht mitmacht.

Patriotisch ist noch nett gesagt: Es ist ein nationalistischer, dummer Schul­ter­schluss. Was mich am meisten beelendet: Die Schweizer im Europarat ha­ben so dumm reagiert, weil sie fälschlicherweise glaubten, die Schweiz wer­de als Nation angegriffen. Sie haben den Europarat als Ort der euro­pä­ischen Innenpolitik nicht verstanden und gemeint, er sei ein Kampfort der Na­tiona­listen und der Verteidigungsminister. Dabei wurden schlicht ein paar Zu­stände in der Schweiz als unvereinbar mit den Interessen der Allgemein­heit, der grossen Mehrheit der einfachen europäischen Bürgerinnen und Bürger begriffen. Und plötzlich wollten zum ersten Mal in den siebzehn Jahren, die ich im Europarat bin, alle Schweizer reden. Einige wollten sogar verhindern, dass die, die eine andere Meinung haben, sich auch nur äussern können.

Man wollte verhindern, dass Sie reden?

Ja, da lief einiges hinten herum. Aber wir sind doch ein pluralistisches Land! Es wäre ja gelacht, wenn die Schweizer Pluralität nicht auch im Europarat zum Ausdruck gekommen wäre.

Deshalb bezeichnen Sie die Abwehrhaltung der anderen Parlamentarier als dumm?

Sehen Sie, die Wortführer dieser Abwehrhaltung von CVP und SVP – Gerhard Pfister, Urs Schwaller, Alfred Heer –, diese Leute sind seit Januar im Europa­rat. Sie haben offensichtlich noch nicht gelernt, die Schweiz auch mit dem Blick der anderen zu sehen …

Wie ist denn der europäische Blick auf die Schweiz?

Es gibt nicht nur einen Blick: Was die Schweiz und Europa gemeinsam haben, ist die Vielfalt. Man kann auch Europa nicht über einen Leisten schlagen. Aber eines ist sicher: Kaum einer versteht die Schweiz.

Warum nicht?

Das ist doch nicht überraschend. Die Schweiz versteht sich ja selber nicht.

Was heisst das?

Wir denken viel zu wenig nach! Wir können einander nicht mal richtig zuhören. Eine Folge der Spaltungen, welche die schweizerische Gesellschaft prägen: Wir führen keine echten Diskussionen über uns selber und versuchen nicht, uns mit uns über uns zu verständigen. Man kann die europäische Kritik an der Schweiz vielleicht so zusammenfassen: Die Schweiz ist sich nicht be­wusst, wie privilegiert sie durch das 20. Jahrhundert gekommen ist. Und sie ist nicht bereit, die Früchte dieser Privilegien zu teilen. Mit der Krise hat das für viele Länder existenzielle Dimensionen angenommen: Das Schwei­zer Bank­ge­heimnis hindert andere Staaten daran, an das ihnen zustehende Geld zu kommen, das sie für die Bewältigung ihrer Aufgaben benötigen. In Spanien, Griechenland, Italien, Portugal haben sie eine Jugendarbeitslosen­quo­te von vierzig bis fünfzig Prozent. In der Schweiz liegen allein aus Griechenland si­cher 20 Milliarden Franken von Reichen, die dort keine Steuern zahlen. Bei Deutschland geht man von rund 200 Milliarden Schwarzgeld aus. Das Bank­ge­heim­nis und diese Art der Steuergesetzgebung sind ein Erpressungs­mit­tel, das Unternehmen und einzelne Reiche gegenüber Staaten anwenden, wenn diese demokratisch eine Politik beschliessen, die ihnen nicht passt. Damit wird das Primat der Politik durch ein Primat des Profits und der Privilegien abgelöst. Die Demokratie wird faktisch entmachtet. Das ist unannehmbar.

Sie tun so, als würden die anderen Staaten keine Interessenpolitik verfolgen.

Keineswegs. Auch mein liberaler britischer Kollege sprach sich gegen die Steuer- und Bankenpolitik der City of London und der Kanalinseln aus. Gute Geschäfte macht man – vor allem wenn sie nachhaltig sein sollen – mit den anderen und nicht gegen sie. Man kann nicht gegen die anderen überleben; die eigene Gesetzgebung muss im Wesentlichen auch den Lebensinteres­sen der grossen Mehrheit der anderen Europäer Rechnung tragen. Darin liegt der entscheidende Widerspruch: Die vehementen Kritiker der Resolution stehen ja nicht einmal hinter dem Bundesrat und widersetzen sich dem Weg, den er die letzten drei Jahre gegangen ist. Sie bekämpfen auch in der Schweiz, was diese in Europa aus dem Schussfeld bringen würde. Die helvetischen Nationalkonservativen haben die Hälfte der Schweizer Stimmen im Europarat gestellt: Alfred Heer und Maximilian Reimann – beide SVP – ar­beiten in der Finanzbranche oder fühlen sich ihr verpflichtet, Gerhard Pfisters CVP im Kanton Zug war immer die kapitalfreundlichere Partei als etwa die FDP Zug. Pfister identifiziert sich total mit diesem egoistischen Zuger Finanz- und Steuerplatz. Und Urs Schwaller ist ein Weder-Fisch-noch-Vogel-CVPler: Vorneherum zeigt er mir gegenüber Verständnis, hintenherum schimpft er mich im offiziellen Parteicommuniqué «Landesverräter»!

Wir haben manchmal den Eindruck, dass Sie selber auch gut zum Feindbild taugen.

Das kann schon sein, ja. Ich muss immer an Jean Ziegler denken. Er hat die­se Rolle viel mehr gespielt, weil er sich seit dreissig bis vierzig Jahren auf den Kampf gegen die Banken konzentriert hat. Ich wundere mich, dass heute Vorwürfe wie Vaterlandsverräter und Antischweizer noch möglich sind – als wären wir immer noch im Kalten Krieg der fünfziger Jahre. Ich darf in der Schweizer Politik eine Ausnahme sein, weil ich sehr viel in Europa für die Demokratie und die Menschenrechte arbeite. Dafür muss man reisen. Und weil Reisen für die SVP ein Synonym für Ferien ist, glauben die National­kon­servativen, ich sei die ganze Zeit in den Ferien.

Das geht aber auf Kosten der Schweizer Politik: Von Ihnen hört man nur, wenn es um Europa geht. In der nationalen Politik bleiben Sie im Hinter­grund.

Nein, Sie dürfen sich nicht auf das verlassen, was Sie hören. Sie müssen ge­nau hinschauen. Da sehen Sie mein Engagement für die Demokrati­sie­rung der Demokratie in der Schweiz auf allen Ebenen im Rahmen der Staatspoli­ti­schen Kommission. Nur interessiert das die meisten Journalisten nicht.

Trotzdem: Sie gehören zu den Figuren in der Schweizer Sozialdemokratie, die sehr lange dabei sind. Und doch war ein Andreas Gross beispielsweise bei der Diskussion ums Parteiprogramm nicht präsent.

Man kann nicht so viel in Europa arbeiten und auch noch in die Parteigremien gehen. Zudem: Ich war bei der Ausarbeitung des Parteiprogramms vor 25 Jah­ren dabei und habe gelernt, wie man es nicht machen darf. Im Jahr 2010 bin ich fast verzweifelt darüber, dass fast alle Fehler wiederholt wurden.

Welche meinen Sie?

Dass man im Hinblick auf die Wahlen noch schnell ein Parteiprogramm ma­chen wollte. Das Wichtigste an einem Programm ist die Diskussion. Und Hans-Jürg Fehr gehörte zu denjenigen, die am wenigsten offen waren, grund­sätzlich zu diskutieren und der Diskussion genug Zeit zu lassen. Er war für mich eine grosse Enttäuschung. Das haben wir in meiner Sektion durchaus gemerkt, ich habe es im Frühling 2010 vor dem vorgegebenen Abschluss der Programmdiskussion zu Christian Levrat auch gesagt und gewarnt: Das kommt schief. Aber er glaubte mir nicht und hörte auch nicht richtig zu. Und dann wurde es Herbst, und es war zu spät. So darf man kein Programm machen.

Sie sind verärgert, weil sich Ihre Position nicht durchgesetzt hat.

Ich bin nicht einer, der sich immer durchsetzen muss. Ich kann akzeptieren, in der Minderheit zu sein. Aber das Programm ist voller Widersprüche: Man kann nicht für Friedenseinsätze sein und gleichzeitig die Armee abschaffen. Solche und andere Widersprüche zeigen, dass Qualität, Tiefe und Dauer der Dis­kus­sion unzulänglich waren. Dabei ist die Diskussion entscheidend – ein Pro­zess, der möglichst viele Leute miteinbezieht und sie fähig macht, nachher besser gemeinsam zu handeln. Das Programm hat dazu wenig beigetragen und der Partei riesige Schwierigkeiten gemacht, weil es den öffentlichen Diskurs negativ prägte.

Sie glauben, dass das Parteiprogramm der SP geschadet hat?

Nein, aber es hat in der Öffentlichkeit unseren Gegnern unnötig Munition ge­ge­ben und unsere Basis nicht gestärkt.

Auch im Umgang mit Europa? Die SP wirkt in der EU-Frage blockiert.

Das ist noch freundlich gesagt: Die SP ist heute Opfer ihrer Beschlüsse, die interne Bildungsarbeit und Theoriezeitschrift zu opfern zugunsten von Pro­pa­ganda und sogenannter Kampagnenarbeit. Die Bildung wird total vernach­läs­sigt. Aber ohne tiefe Kenntnis der schweizer und der europäischen Ge­schich­te kann man heute keine europäische Reformperspektive formulieren. Dann fehlt einem auch der Mut, Positionen einzunehmen, die erst in zehn Jahren Mehrheiten finden werden. Die EU wird ein Auslaufmodell sein, wenn es nicht gelingt, dort die Demokratie zu verankern. Denn die Demo­kratie ist auch ein Versprechen für gerechte Lebenschancen, das heute kein Staat mehr alleine erfüllen kann.

Die EU ist doch alles andere als ein leuchtendes Beispiel für Demokratie …

Sogar im Gegenteil: Heute sind wir so weit, dass Brüssel eine Fiskalunion beschliessen will, die den schwächsten Staaten die parlamentarische Budgethoheit wegnimmt. Etwas, das andere Staaten als den Kern ihrer Demokratie bezeichnen würden. - Die Frage ist nicht, ob man die EU gut findet. Ohne die EU lässt sich schlicht die Demokratie nicht retten. Auch die schweizerische nicht. Doch dafür muss sie demokratisch und föderalistisch verfasst werden. Das heisst, Ausdruck einer Vereinbarung der Bürger zu sein und so auch die Macht und die Legitimität zu bekommen, gestalterisch in die Märkte einzugreifen, sie einzuhegen, sodass Rücksicht genommen werden muss auf die Schwachen und auf die Natur. Das kann heute kein National­staat mehr. Das muss auf europäischer Ebene geschehen.


Andreas Gross
Bekannt wurde er als Vertreter der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA). Andi Gross (59) studierte Geschichte und Politikwissenschaften, übernahm 1979 die Leitung der Schweizerischen Jungsozialisten, gehörte 1981 zu den Mitgründern der GSoA und wurde deren Aushängeschild. Seit 1991 sitzt er für die SP im Nationalrat. Gross machte sich mit zahlreichen demokratietheoretischen Studien und Vorstössen einen Namen; seit 1995 ist er Mitglied des Europarats.



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