26. März 2012
Protokoll ER
|
Die (National-)Konservativen stellen grosse Errungenschaften leichtfertig zur Disposition
Andreas GROSS, Schweiz, SOC
Debatte zum Zeitgeschehen: Die Zukunft des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs und die Brighton-Erklärung.
Danke Herr Präsident,
Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Ich gehöre auch wie Herr Loncle zu denjenigen, die Schlimmeres befürchtet haben.
Wenn wir den Konservativen in England und anderen Nationalkonservativen zugehört haben, wie leichtfertig sie über den Austritt aus dem Europarat und die Aufkündigung der Konvention nachdenken, dann müssten wir meiner Ansicht nach merken, dass viele von uns sich nicht bewusst sind, weshalb dieses Wunder, von dem Tiny Kox gesprochen hat, die «Perle des Europarates», wie es Dick Marty immer nannte, überhaupt möglich wurde.
Hundert Millionen Menschen mussten sterben, damit wir lernen konnten, wie wir die Menschen vor der Willkür des Staates schützen können. Das ist das zentrale Element der Konvention und des Gerichtshofes. Wir müssen uns bewusst sein, dass aus dieser Katastrophe eine Lehre gezogen wurde und eine enorme Errungenschaft erwachsen ist: Ein Bürger kann gegenüber seinem Staat bei einem überstaatlichen Gericht sein Recht einklagen, wenn der eigene Staat seine fundamentalen Menschenrechte nicht beachtet.
Diese enorme Errungenschaft steht zur Disposition, wenn wir es nicht schaffen, dass dieses überstaatliche Gericht so funktioniert, wie es das von den Staaten, die es ggf. verurteilt, selbst verlangt. Wenn man nämlich in einem Staat 37 Monate warten müsste, um überhaupt eine Empfangsbestätigung zu bekommen, würde der Europäische Menschenrechtsgerichtshof diesen Staat verurteilen, weil sein Gerichtswesen nicht den Grundrechten entspricht!
Wenn wir dann mit Zahlen wie 60 % aus fünf großen Staaten kommen, wobei einer der fünf sogar ein Gründungsstaat der Europäischen Union ist, dann müsste man die Anzahl der Klagen gerechterweise ins Verhältnis zur Bevölkerungszahl stellen.
Nach dieser Rechnung wären dann interessanterweise einige kleine Staaten an der Spitze, nicht mehr die ganz großen. Die ganz großen sind trotzdem ein Problem, weil bei uns die Angst, ihnen auf die Finger zu klopfen, größer ist als bei den kleinen. Das allerdings ist keine große Tugend.
Vielleicht sollten wir uns stärker vor Augen führen, dass es sich bei Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechten genauso wenig wie bei der Demokratie um Errungenschaften handelt, die von einem Tag auf den anderen erreicht werden können, sondern vielmehr um Lernprozesse.
Lernprozesse brauchen Zeit, aber vielleicht nicht so viel Zeit, wie wir ihnen bisher gegeben haben. Einerseits können wir lernen, wie wir zu Hause als individuelle Parlamentarier Dinge besser machen können. Auf der anderen Seite sollten wir uns überlegen, wie wir die Vorgänge hier besser analysieren können, um zu wissen, wie wir zu Hause agieren müssen.
Es wurde z. B. ausgerechnet, dass von den anfangs hängigen über 150‘000 Beschwerden 6‘000 dringlich und 17‘000 wichtig waren. Die Kapazität der Verarbeitung im letzten Jahr des Gerichtshofs lag aber nur bei einem Drittel der als wichtig erachteten Klagen. Das bedeutet, dass es dreimal mehr wichtige Rechtsverletzungen in den Staaten gibt, als wir hier bewältigen können. Diese präzisere Analyse müsste uns helfen, unsere Arbeit hier besser zu organisieren, denn es ist unsere Aufgabe zu verhindern, dass dieses Ungenügen unsererseits dazu führt, dass die Bürger nicht mehr vor der Willkür ihres Staates geschützt werden können.
Das sollten wir genau analysieren, um unsere Arbeit im Legal-Affairs-Ausschuss besser zu gestalten.
Kontakt mit Andreas Gross
Nach oben
|