1. März 2012
Tages-Anzeiger, Zürich - Newsnet
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«Wenn die Leute nervös sind und schwitzen, sind das Indizien»
SP-Nationalrat Andreas Gross reist heute nach Moskau, wo er im Auftrag des Europarats die Präsidentschaftswahlen beobachtet. Im Gespräch mit Tagesanzeiger.ch/Newsnet sagt er, worauf er achten wird.
Herr Gross, was machen Sie in Moskau?
Das ist mein vierter Besuch in Moskau im letzten halben Jahr. Am Freitag hören wir den ganzen Tag Experten zu, die alle Aspekte der Wahlen – Gesetzgebung, Medien, Demonstrationen – untersucht haben. Dann gehe ich etwa 1000 Kilometer südlich nach Astrachan am Kaspischen Meer und untersuche dort die spezifischen Verhältnisse vor Ort. Am Sonntag geht es morgens um 6 Uhr los und dauert bis montags um 1 Uhr. Ich besuche etwa 15 bis 20 Wahllokale, bleibe in jedem etwa eine Stunde, mache Notizen und beobachte dann die ganze Auszählerei.
Was wäre eine Unregelmässigkeit, die Sie notieren würden?
Da gibt es ganz viele. Es gibt 60 bis 70 Elemente, auf die man achten kann. Ich habe den Europarekord für Wahlbeobachtung, habe seit 1995 über 60 Wahlen beobachtet. Dabei habe ich einmal 100 gefälschte Wahlzettel gefunden, in einem Safe in Aserbeidschan. Man darf die Listen anschauen, auf denen die Leute unterschreiben müssen, wenn sie die Wahlzettel bekommen. Wenn es dort zu viele gleiche Unterschriften hat oder gleiche Schriften, weiss man, dass etwas nicht stimmt. Man muss auch auf die Stimmung achten, wenn die Leute nervös sind und schwitzen, sind das Indizien, die man verfolgen könnte. Man findet viel heraus, wenn man ein bisschen sensibel ist.
Sie sind einer von 200 Wahlbeobachtern des Europarats. Wie organisieren Sie sich?
Der Europarat arbeitet immer mit der OSZE zusammen. Diese hat einerseits auch kurzfristige Beobachter, die nur ein paar Tage dort sind, und andere, die sechs bis sieben Wochen in den wichtigsten Regionen bleiben. Deren Einsichten integrieren wir in unsere Arbeit. Ohne die Leute, die länger dort sind, könnten wir unsere Arbeit nicht machen. Der Europarat hat andererseits den grossen Vorteil, dass er eine Kommission hat, die sich mit zehn Staaten beschäftigt, die in den letzten 20 Jahren zum Europarat gekommen sind, in denen der demokratische Reformprozess noch am Anfang ist. Russland ist einer davon. Deshalb diskutiere ich die Situation in Russland alle drei Monate mit meinen Kollegen in der Kommission.
Können Sie verhindern, dass sie von Experten vor Ort instrumentalisiert oder falsch informiert werden?
Uns kann man nicht so schnell hinters Licht führen, da wissen wir zu viel und kennen zu viele Leute, die uns informieren. Instrumentalisiert werden wir auf keinen Fall, im Gegenteil, die haben uns nicht gern. Wir sind viel zu kritisch und reden zu offen. Wir sagen, was wir denken.
Ist es nicht aussichtslos, in einem so grossen Land einen Überblick zu erhalten?
Ich arbeite jetzt seit 16 Jahren mit, über und an Russland. Es ist eine ewige Arbeit, man begreift mit der Zeit schon mehr. Ich lese in zehn europäischen Zeitungen die wichtigsten Artikel über Russland. Und weil wir im Europarat russische Kollegen haben, die von der Duma kommen, und uns ständig mit ihnen auseinandersetzen, wissen wir, wenn wir völlig neben den Schuhen sind. Sie reagieren auf einen, das Beste ist, wenn man eine Arbeit macht, die sie dann auch gut finden.
Wie beurteilen Sie die Berichterstattung in der Schweiz?
Bei den Wahlen in Sibirien im letzten Dezember haben die Zürcher Zeitungen genug Platz geschaffen, um die Wahlen zu begreifen. Auch im Vorfeld der Wahlen vom Sonntag wurde gut berichtet, da kann man nicht schimpfen. Man muss tief genug gehen in der Kritik, diese aber so äussern, dass man den Respekt vor Russland nicht verliert. Man darf nicht vergessen, dass Russland in den letzten 200 Jahren zweimal von Europa angegriffen worden ist, und nicht umgekehrt. Russland hat 30 Millionen Leute verloren im Zweiten Weltkrieg, das sind Sachen, die nicht vergessen gehen.
Sie sprechen von einem demokratischen Reformprozess in den Anfängen?
Demokratie ist ein ewiger Prozess und sie hat in Russland riesige Hindernisse zu überwinden. Das Schlimmste ist: Demokratie ist durch Jelzin in den Neunzigerjahren, als sich Oligarchen am Volksvermögen bereichert haben, für viele einfache Leute in Russland ein Synonym geworden für Chaos, keine Löhne, keine Arbeit, Bereicherung von wenigen Leuten. Daran hat Wladimir Putin gearbeitet, er hat ab 2000 eine gewisse Ordnung ins System gebracht, die Leute verdienen etwas, die Renten sind höher. Das ist vor allem dem Öl- und Gasverkauf zu verdanken. Putin hat aber nicht viel gemacht zur Vertiefung der Demokratie. Ausser, dass es jetzt eine Mittelschicht von gut ausgebildeten Leuten gibt. Nicht zu vergessen: Von den 100'000 Leuten, die am 24. Dezember auf der Strasse waren, haben 70 Prozent ein abgeschlossenes Unistudium. Das sind die qualifziertesten Leute, die man heute nicht mehr kaufen kann. Sie wollen, dass man ihre Wahlen nicht stiehlt.
Was halten Sie vom Attentat auf Putin?
Ich weiss nicht, ob es eines ist, möglich. Sicher ist es verräterisch, so kurz vor den Wahlen. Sie müssten mehr Beweise bringen. Das ist aber nicht das Wichtigste. Wichtiger ist, dass letztes Jahr 25 Journalisten umgebracht worden sind, dass Dutzende von Menschenrechtsleuten umgebracht wurden, und kein einziger von diesen Morden in den letzten zehn Jahren ist wirklich aufgeklärt worden.
Handelt es sich wieder um eine Wahl ohne Wahl, wie Sie bei einer früheren Wahlbeobachtung in Russland geschrieben haben?
Es ist keine freie, und schon gar keine faire Wahl. Frei würde heissen, dass man eine grosse Auswahl hat. Unfair ist sie, weil Putin enorme Ressourcen hat, er versteht seine ganze tägliche Premierministerexistenz als Wahlkampf. Die Tatsache, dass jetzt 100'0000 Leute diese Wahlen beobachten in Russland, normale Bürger, im ganzen Land mit seinen elf Zeitzonen, das ist ein enormer Fortschritt. Was der macht, der dann gewählt wird, hoffentlich erst im zweiten Wahlgang – das wäre ein Beitrag zur Bescheidenheit –, weiss niemand.
Kontakt mit Andreas Gross
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