4. März 2012

Text geschrieben für den Sonntagsblick

Russland an der Wegscheide - Putins letzte Chance!


Von Andreas Gross
Andreas Gross ist Politikwissenschaftler, Zürcher Nationalrat und SP-Frakti­ons­präsident im Europarat. Dort ist er zuständig für die Beurteilung der Ent­wicklung der Menschenrechte und der Demokratie in Russland, dessen heu­tige Präsidentschaftswahlen er zum siebenten Mal, diesmal in Astrakhan am Kaspischen Meer, beobachtet. Gross hat seit 1995 vor allem in Ost- und Südosteuropa über 60 Wahlen aus der Nähe beobachtet und gilt auch im Europarat als ausgesprochener Demokratiespezialist.


Am heutigen Wahlsonntag ist in Russland vieles anders als anderswo sonst an Wahltagen. Wer gewinnt ist hier keine Frage. Doch was der Gewinner nach seinem Sieg macht, weiss keiner. Und dies macht vielen furchtbar Angst.

Wohl noch nie in den vergangenen 10 Jahren haben vor Präsidentschafts­wah­len in einem Land so viele Menschen sich darauf vorbereitet, als heimi­sche Wahlbeobachter dafür zu sorgen, dass in den Wahllokalen, beim Aus­zäh­len und dem Übermitteln und Zusammenstellen der Ergebnisse, nicht geschummelt wird. Mehrere Zehntausend Bürgerinnen und Bürger Russ­lands haben sich in den vergangenen Wochen freiwillig stundenlang kundig gemacht: Sie wollen in den fast 100'000 Wahllokalen des grössten Landes der Welt vor Ort persönlich dafür sorgen, dass nicht mehr so betrogen und Resultate gefälscht werden können wie bei den Parlaments­wahlen vom vergangenen Dezember. Auch haben noch nie seit dem Ende der Sowjetunion in Russland so viele Menschen an so vielen Orten für anständige (saubere) Wahlen demonstriert.

Wieder einmal steht Russland vor Wahlen ohne Wahl. Zwar werden über 100 Millionen Russinnen und Russen heute unter fünf Kandidaten auswählen können, doch eigentlich zweifelt niemand ernsthaft daran, wer gewinnt: Vladimir Putin, von 2000-2008 schon einmal Präsident und von 2008 bis jetzt Premierminister der Russischen Föderation. Nicht einmal seine vier Mitkan­di­daten rechnen ernsthaft mit einer anderen Wahl. Der eine ist ein zwar liebenswerter Kommunist, der die Zukunft aber in der Vergangenheit sucht, der andere ein Nationalist, der die meisten beschämt, der dritte hat sich schon vor acht Jahren als Putin-Fan diskreditiert und der vierte, neue, ein Oligarch, der sich am liebsten als Premierminister unter Präsident Putin sähe. Die vier glauben nicht einmal richtig daran, Putin in einen zweiten Wahlgang drängen zu können.

Wahlen ohne Wahl also! Weshalb liegt denn aber trotzdem eine so unge­heu­re Spannung über dem Land? Weshalb wird diese Spannung nicht wie üblich durch die Wahl aufgelöst, sondern wird nach der Wahl noch grösser sein?

Einerseits wird eine klare Mehrheit der Russen sich für die Rückkehr Putins in den Kreml, den Sitz des russischen Präsidenten, aussprechen. Doch kaum einer von ihnen weiss wirklich, was Putin nach seinem Sieg machen wird.

Andererseits regiert Putin dieses riesige Land nun schon seit 12 Jahren als Präsident oder als Premier. Doch er ist nach dieser Wahl mit einem neuen Land konfrontiert. Er sieht sich einer Gesellschaft gegenüber, die ihn zwar mehrheitlich wählte, die er aber genau so wenig kennt wie sie ihn.

Der 24. September 2011 war der Wendepunkt. Bombastischer Parteitag der Regierungs- und Staatspartei Vereintes Russland. Live übertragen auf allen staatlichen TV-Kanälen. Da stehen zwei untersetzte Männer im Rampenlicht und verkünden sichtlich aufgekratzt der Nation, sie würden nun wie schon vor Jahren vereinbart, wieder die Plätze tauschen: Medwedjew, vor vier Jahren von Putin zu seinem Nachfolger als Präsident gemacht, sagte, 2012 werde Putin wieder Präsident. Und Putin, unter anderem auch Parteipräsident ohne Parteimitglied zu sein, meinte anschliessend gönnerhaft, er werde dann als erste Amtshandlung Medwedjew zum Regierungschef machen und dieser würde nun schon mal die Staats- und Regierungspartei in die Parlamentswahlen vom 4. Dezember führen.

Die beiden hatten wohl gemeint, das russische Volk, das von Väterchen Staat schon so viel Schmach erduldet hat im 20. Jahrhundert, würde auch dies einfach so schlucken. Das war der Irrtum des Jahres. Viele Russen konnten es nicht fassen. Zu viele unter ihnen hatten mittlerweile gelernt, dass sie die Quelle dieser Macht sind, die da vor ihren Augen, gleichsam wie Privat­eigen­tum in einer privaten Angelegenheit, von einer Hand in die andere gelegt wird. Als ob dafür nicht noch zwei grosse Wahlen gewonnen werden müssten. Als ob nicht so viele von ihnen gehofft hätten, Medwedjew könnte wirklich mit den Liberalisierungen beginnen, zu denen Putin nie fähig war. Als ob die Verfassung nicht wie in den USA verhindert, dass ein Mensch länger als acht Jahre Präsident sein kann. Zu viele – und das sind in Russland immer gleich Millionen – fühlten sich verhöhnt, «verarscht». Das wollten sie nicht auf sich sitzen lassen. Sie hatten genug von den beiden und deren «Staatspartei».

Eine erste Quittung folgte am 4. Dezember 2011, bei den Parlamentswahlen. Obwohl weder frei – viele sozialliberale, alternative Parteien waren wieder ausgeschlossen worden von der Registrierung – noch fair (die Staatspartei nutzte viel zu viele staatliche Ressourcen und monopolisierte die grossen TV-Sender), verlor das Vereinigte Russland fast 20 Prozent Wähleranteile, das sind über 15 Millionen Stimmen! Und als die über 40 Millionen Russen, welche über das Internet verfügen, an ihren Bildschirmen die Filme ansahen, die belegten, wie wiederum im ganzen Land betrogen worden war bei dieser Wahl, wie falsch ausgezählt wurde, Auszählungsprotokolle gefälscht, mehrfach gewählt, falsche Stimmzettel gezählt und andere ignoriert worden waren – einheimische Experten schätzen, dass die Putin-Partei trotz allen Verlusten immer noch um etwa 15 Prozent zu «gut» abschnitt - da sagten sich Millionen: Jetzt reicht‘s! «An jenem Sonntagabend, um 22 Uhr, ist für viele, die von Politik lange nichts wissen wollten, die alles für ein hoffnungslos abgekartetes Spiel hielten, die Politik bis heute zum Thema Nummer eins geworden», erzählte mir ein Moskauer Freund. Sie gingen zu Hunderttausenden auf die Strasse, in über 100 Städten, immer wieder, vor allem junge Menschen, sehr gut ausgebildet, friedlich, kreativ, ohne parteipolitische Slogans, einfach für saubere Wahlen. Für Anstand auch in der Politik. Für ihre Würde als Bürgerinnen und Bürger.

Russland wurde so von sich selber überrascht. Dass eine solche aktive Zivilgesellschaft in diesem über Jahrzehnte so geschundenen und geknüppelten Land möglich war, glaubte wirklich keiner. Russland war so sehr überrascht und beeindruckt, dass auch die Herren im Kreml und im Weissen Haus, dem Sitz des Premiers, nicht anders konnten, als diese Dutzenden von Kundgebungen hinzunehmen. Die Polizei regelte den Verkehr. Mehr nicht. All die hochgerüsteten Sicherheitskräfte blieben in den Kasernen. Keine Gewalt. Die kleine Überraschung in der grossen!

Doch Putin (Offizieller Wahlslogan: «Ein starker Führer für ein schönes Land!»), anfangs machohaft selbstherrlich wie immer, wurde immer nervöser. Das zeigte der zunehmend martialische, militärische Ton in seinen letzten Wahlkampfreden. Er zog das Register, mit dem seit über zwei Jahrhunderten das alte ländliche Russland mobilisiert werden kann: Die Bedrohung durch den Westen, die böse USA, die arrogante EU. Das Militärbudget soll in den kommenden zehn Jahren um 600 Milliarden vermehrt werden, kündigte er noch letzte Woche an.

Am heutigen Wahltag stehen sich zwei Russland gegenüber, sagt mir gestern ein Kollege: «Das TV-Russland und das Internet-Russland». Mit dem TV-Russland meinte er die grosse Mehrheit auf dem ganz grossen weiten Land, das nur die drei grossen staatlichen TV-Kanäle als Informationsquelle kennt, wo Putins Sicherheits- und Stabilitäts-Botschaften omnipräsent sind und ankommen, weil die Angst vor Veränderungen so tief sitzt und die Demokratie mit dem Chaos der 1990er Jahre, mit dem Verlust aller Ersparnisse, den fehlenden Renten und dem Verschachern des Volksvermögens an die Oligarchen (Privatisierung ohne Rechtstaatlichkeit) gleichsetzt wird. Mit dem Internet-Russland meinte er alle die modernen Städter, die bloggen, surfen und die Welt kennen gelernt haben, die wissen, dass man Stimmen nicht stehlen darf in einer Demokratie, die mitbestimmen wollen, das Leben nicht als Schicksal erfahren wollen.

Putin wird mit dem seinen Russland gewinnen. Doch das andere wird nicht verschwinden. Bereits sind für morgen Abend Grossdemonstrationen in Moskau und St. Petersburg angekündigt – und bewilligt worden. Freilich von beiden Russlands. Können sie friedlich bleiben? Kann Putin seine (letzte) Chance erkennen, dank dem einen aufmüpfigen Russland das ganze Land endlich zu demokratisieren und zu befreien? Oder liebäugelt er doch wieder mit der alten kalten brutalen Staatsgewalt, mit dem das russische Volk schon so oft zusammengestaucht wurde, wenn es sich zurecht für seine Würde gewehrt hatte? Das sind die Fragen, welche sich heute viele Millionen von Russinnen und Russen stellen, die zwar wählen gehen, doch wissen, dass diese Wahlen nicht wie sonst in einer Demokratie auch die Grundlage für und die Hinweise auf die Antworten liefern werden. Deshalb sind auch diese Wahlen ohne Wahl mit so viel Spannung, Ungeduld und Angst verbunden.


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