11. Nov. 2011

Tageswoche

Europa ist nicht zu gross für die Direkte Demokratie


Die Fragen stellte Philipp Loser, Redaktor Tageswoche.

Wie soll, gerade in Zeiten der Krisen, die demokratische Macht auf einer transnationalen Ebene wiederhergestellt werden?

Ohne Finanz-, Wirtschaft- und Verschuldungs-Krisen wäre vielen die Einsicht verwehrt geblieben, dass auch die Demokratie in einer tiefen Krise steckt. Sie hat im Kern zwei Ansprüche: Einerseits sollten alle Bürgerinnen und Bürger, die von Entscheidungen betroffen sind, Teil der vorangehenden Entscheidungsprozesse sein. Andererseits sollten in einer Demokratie die Lebenschancen fair verteilt werden. Nationalen Demokratien war es völlig unmöglich, die zwei Ansprüche einzulösen. Die Menschen waren Gegenstand, Objekte der Entscheidungen, nicht deren Subjekte. Die Krisen machten deutlich, dass es für beide Ansprüche neue transnationale Institutionen braucht, die auch auf globaler und europäischer Ebene die Märkte zwingen, Rücksicht zu nehmen auf Menschen und Natur. Die rein nationalen Demokratien können ihren Anspruch genau so wenig realisieren wie 1848 die kantonalen Demokratien. Wenn die Bürgerinnen und Bürger dies erkennen, vermögen sie auch die Kraft zu entfalten, dies zu realisieren. Demokratie bedeutet immer eine feinere Verteilung von Macht: Dies wird nie pfannenfertig ins Haus geliefert, sondern jene, die dies wollen, müssen dafür etwas tun und dies durchsetzen.

Wie steht die Schweiz im Vergleich zu diesen Überlegungen?

Die Schweiz gehört historisch zu jenen Ländern, in denen die nationale Demokratie noch masslos überschätzt wird. Auch die neuesten Katastrophen haben die Schweizerinnen und Schweizer bisher nicht so erreicht, als dass sie in ihrer grossen Mehrheit bereits gemerkt hätten, wie schwach heute die nationale Demokratie, das heisst also jene Macht, die nur national verfasst ist, angesichts der transnationalen Märkte geworden ist. Diese Erkenntnis steht vielen von uns erst noch bevor. Schade ist, dass auch viele schweizerische wirtschaftlichen, wissenschaftlichen und politischen Eliten wenig dazu beitragen, um diese Einsichten und diesen gesellschaftlichen Lernprozess zu fördern. Das gilt ganz besonders für Spitzenleute von Novartis, Nestlé, den Bundesrat oder für Oekonomie- und Politologie-Professoren.

Was ist den EU-Gegnern zu sagen, wenn sie mit dem Zeigefinger auf das «undemokratische» Europa zeigen?

Sie stehen sich vor allem selber im Weg. Einerseits reduzieren sie das Problem fälschlicherweise auf ein Nullsummenspiel, wonach die Schweiz als Staat allein besser machen könne als was die EU nicht kann. Zweitens würde ihnen die Geschichte der EU zeigen, weshalb die EU mit ihrer Vertragsbasis keine genuine transnationale Demokratie entwickeln könnte und weshalb die noch so demokratisch ausgestaltete Schweiz dieses Defizit aber nicht kompensieren kann. Dazu muss die EU von einer Vertrags- auf eine Verfassungsbasis gestellt werden und dies kann man nur in und mit ihr tun und nicht von aussen. -- Die Schweizer EU-Gegner wie auch alle in allen Staaten wieder sehr stark gewordenen Nationalisten verkennen, dass national die Demokratiekrise nicht behoben werden kann, wir also die EU demokratisieren müssen und zweitens nicht nur die EU mehr Demokratie braucht, sondern die Demokratie eben auch die EU, weil eine nationale Demokratie allein den transnationalen Märkten nie Herr werden kann. Um dies zu schaffen, muss die Demokratie auf der gleichen Höhe verfasst werden wie die Märkte, also europäisch und global. Heute gleicht die Demokratie dem Steuerruder eines Schiffes; das Schiff liegt im Wasser, doch das Steuerruder reicht nicht bis ins Wasser. Das kann man daran hebeln wie man will. Wer das Schiff wieder steuern will, muss erst das Ruder verlängern, so dass es wieder ins Wasser reicht.

Müssten, um auf einer transnationalen Ebene zu mehr Demokratie zu gelangen, nicht auch die Regierungen der Nationalstaaten ein grösseres Bewusstsein für demokratische Mitbestimmung entwickeln?

Gewiss. Wobei ich mir manchmal nicht sicher bin, ob sie die Demokratie gar nicht mehr ernst nehmen und so deren riesige Schwächen nicht erkennen können, oder ob ihnen bloss der Wille und die Kraft fehlt, dazu beizutragen, die Demokratie zu entwickeln und auf der transnationalen Ebene einzurichten. Doch sie sollten eigentlich merken, dass auch sie als Regierungsmitglieder immer weniger zu sagen haben als Vertreter der nationalen Demokratien auf der transnationalen Ebene gegenüber den Banken und Märkten. Es ist paradox, dass letzten Freitag in Paris gemäss FAZ ausgerechnet der Chef der Deutschen Bank, der Schweizer Ackermann, die Dringlichkeit der europäischen Verfassungsdebatte in Erinnerung rief und nicht ein EU-Minister oder Spitzenpolitiker.

Lässt sich das Konzept unserer Direkten Demokratie auf Europa übertragen?

Absolut. Europa muss als föderalistischer europäischer Bundesstaat von 500 Millionen Menschen in etwa 35 Staaten neu gedacht und verfasst werden. Gerade auch auf dieser Ebene kann die Demokratie nicht nur repräsentativ gedacht werden, sondern braucht wegen der Grösse der Räume und der Höhe der Zahl der Menschen direktdemokratische Ergänzungen, so dass die Demokratie auch erlebt und erfahren werden kann. Wobei nicht vergessen werden darf, dass, wer Verfassung sagt, bereits mit dem obligatorischen Verfassungsreferendum – seit der amerikanischen und französischen Revolution für genuine Demokratien eine demokratische Selbstverständlichkeit – ein wichtiges Stück Direkte Demokratie mitmeint. -- Dafür braucht es heute weit weniger Courage als 1790, als Condorcet für Frankreich erstmals eine nationale Verfassung mit direktdemokratischen Elementen entwarf. Denn heute sind in Europa im Gegensatz zum Frankreich von damals sehr viele BürgerInnen in die Schule gegangen, können sich gut informieren und es gibt öffentliche Einrichtungen, die ihre politische Urteils- und Kommunikationsfähigkeit weiter ausbilden ebenso wie es Institutionen gibt, welche die Grundrechte der Menschen bereits sichern und transnational schützen. So ist das demokratisch Mögliche nicht durch die Geographie bestimmt oder begrenzt, sondern durch die kulturelle und zivilisatorische Fähigkeiten der Menschen. Europa ist nicht zu gross für die Direkte Demokratie wie viele meinen; ein kleines Dorf von stummen Analphabeten, die nicht miteinander kommunizieren, wäre es freilich schon!


Kontakt mit Andreas Gross



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