20. Okt. 2011

eSPress

Die Europäische Sozialcharta:
Symbol schweizerischer Defizite



Von Andi Gross Gestern feierte die Europäische Sozialcharta ihren 50. Ge­burtstag. Die offizielle Schweiz war abwesend. Denn die Schweiz gehört mit San Marino, Monaco und Liechtenstein zu den vier unter den 47 Mit­glieds­ländern des Europarates, welche die Sozialcharta bis heute nicht ratifiziert haben. Aus europäisch, zivilisatorischer Sicht nichts weniger als eine Schande, wie mehrere Parlamentarier der CVP und der SP anlässlich der kleinen Kundgebung auf dem Berner Waisenhausplatz betont haben. Aus innenpolitischer Sicht zweifelhaftes Symbol für das zerrüttete Verhältnis der offiziellen Schweiz zu sozialen Rechten und Standards, die international geschützt und im Fall der Nichtbeachtung von engagierten Organisationen angemahnt werden können.

Die Europäische Sozialcharta (ESCH) ist die Zwillingsschwester der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK). Erstere stammt aus den ersten 1950er Jahren und bildet die Seele des europäischen Freiheits­ver­ständnis. Ihre Kern ist der Anspruch auf die Würde jedes Menschen und dessen Respektierung. Doch es gibt keine menschliche Würde ohne Respekt der minimalen existenziellen Lebensvoraussetzungen: Nahrung, Obdach, Arbeit, Gesundheit, Zugang zur Kultur. Deshalb schuf der Europarat anfangs der 1960er Jahre auch die Sozialcharta. Beide bilden heute die zwei untrennbaren Bausteine des freiheitlich sozialen europäischen Gesell­schafts­verständnisses. Seit Ende der 1950er Jahre schützt der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strasbourg jedes Einzelnen Grundrechte der EMRK auch gegenüber dessen Staatsgewalt auf der Basis der individuellen Klagemöglichkeit. In der dritten Generation der Sozialcharta ist seit Ende der 1990er Jahre nun auch ein kollektiver Schutz der minimalen sozialen Grundstandards vor der zuständigen Expertenkommission der ESCH vorgesehen, die kollektiven Klagen offen stehen. Eine Art soziales, übernationales Verbandsbeschwerderecht also.

Die Schweiz ratifizierte 1974 nach Einführung des Frauenstimm- und Wahlrechtes endlich die EMRK. Bei der ESCH ist dies trotz Befürwortung durch den Bundesrat bis heute nicht geschehen. Seit 20 Jahren verweigert die Mehrheit der Bundesversammlung sich dieser zivilisatorischen Selbstverständlichkeit. Über die Ursachen dieser Unterlassungssünde lässt sich trefflich stundenlang streiten.

Bemerkenswert ist wie aktuell die entsprechenden Defizite innenpolitisch deutlich gemacht werden können. Die Sozialcharta möchte die Menschen von der Angst befreien, die von wirtschaftlichen und sozialen Herrschafts­ver­hält­nissen generiert werden. Die Mehrheit der bürgerlichen Parlamentarier zieht das Geschäft mit der Angst der Befreiung von den unnatürlichen Ängsten vor. Denn mit dem Geschäft kann die Quelle dieser unnatürlichen Ängste auf Sündenböcke projiziert und so von den reformbedürftigen wirtschaftlichen und sozialen Lebenswelten abgelenkt werden. Dieser Wahl-Sommer und –Herbst waren eine traurige Illustration dieser manipulativen Möglichkeiten, die eine Gesellschaft, in der zu viele von den Ängsten anderer leben wollen statt sie abzubauen ermöglicht. Ein Unrecht und ein Mangel an Respekt an der Würde nicht privilegierter Menschen, welche die ESCH überwinden möchte. Zu hoffen ist, dass eine Mehrheit jener, die am kommenden Sonntag in die Bundesversammlung gewählt werden, hier Einhalt bieten und die Ratifizierung der ESCH endlich durchsetzen. Wahrscheinlich ist dies leider noch nicht.


Kontakt mit Andreas Gross



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