11. Juli 2011

Vortragsnotizen AG

Handout zum Vortrag
Demokratie in Gefahr! --
Demokratie: ein Auslaufmodell oder
eine Herausforderung zur demokratischen
Neuerfindung der EU?



Vortrag im Rahmen des Leonardo Kollegs der Universität Erlangen, in der Aula am Schloss, 11. Juli 2011 von Andreas Gross (St-Ursanne/Zürich). Historiker und Politikwissenschafter, seit 20 Jahren Lehrbeauftragter an verschiedenen deutschen Unis, Leiter des Ateliers für Direkte Demokratie in St-Ursanne (JU/CH), Mitglied des Schweizerischen Bundesparlamentes und Fraktionsvorsitzender der Sozialdemokraten in der Parlamentarischen Versammlung des Europarates.

15 Leitsätze, Thesen und Fragen

1. Es ist unübersehbar: Sowohl die Demokratie als auch die Europäische Union (EU) sind derzeit in einer ausgesprochen schlechten realen Verfassung.
• «The nationalists have won – Europe’s dream is over» (M. Kettle im Guardian vom 24. Juni 2011);
• «En Espagne, la leçon de ‚los indignados’: Un même sentiment les réunit: celui de ne pas être entendus par les responsables politiques, d’être tenus à l’écart d’un système devenu sourd et aveugle aux préoccupations des citoyens ‚de la rue’.» (Leitartikel im Le Monde vom 24.Mai 2011);
• «It isn’t just the Euro. Europe’s democracy itself is at stake.» (Amartya Sen im Guardian vom 23. Juni 2011) ;
• «C’est peut-être la leçon du ‚printemps arabe’ à l’Europe: si le peuple parvient à changer le cours des choses dans une dictature, il doit lui être possible de le faire dans une démocratie.» (Schluss des LA im Le Monde vom 24. Mai 2011) ;
• «Ce tableau d’ensemble confirme une tendance déjà perceptible depuis deux décennies: la délocalisation du pouvoir politique réel vers les lieux d’apesanteur démocratique. Jusqu’au jour où l’indignation éclate. Nous y sommes.» (Leitartikel von Serge Halimi im Le Monde Diplomatique, Juli 2011).

2. Zwei Paradoxons unserer Zeit: Die Demokratie hat sich als einzig legitime Form der Herrschaft praktisch weltweit durchgesetzt – und noch nie waren so viele Demokraten so enttäuscht von ihrer Leistungsbilanz. Kaum jemand stellt heute im grossen Europa der 47 Staaten Sinn, Zweck und Notwendig­keit der Europäischen Integration mehr in Frage – doch so gross war die Distanz vieler Europäer zur EU noch selten.

3. Der Anspruch der Freiheit seit der Französischen Menschenrechts-erklärung: Das Leben ist kein Schicksal. Zusammen können wir die gemeinsamen Lebensgrundlagen gemeinsam gestalten. Die Demokratie stellt uns all die notwendigen Institutionen, Rechte und Verfahren zur Verfügung, das die in der Freiheit notwendigen Konflikte ohne Gewalt überwunden werden können.

4. Der demokratische Anspruch: Wer betroffen ist von einer Entscheidung sollte Teil der Entscheidungsfindung sein. Die Demokratie sorgt für eine faire Verteilung der Lebenschancen. Gemessen an diesen Ansprüchen ist jede Demokratie immer unvollendet; sie ist ein nie endender Prozess der An­näherungsbemühungen an diese Ansprüche (Asymptote).

5. Heute ist die Demokratie zu ausschliesslich national und zu ausschliess­lich repräsentativ («Doppelte Krise», Europaratsbericht zum Stand der Demokratie in Europa, 2010). National vermag sie die Lebenschancen der Menschen nicht mehr auszugleichen. (Zitate von Dohnanyi und Weizsäcker). Ausschliesslich repräsentativ vermag sie den modernen Bürger nicht mehr zu repräsentieren, sie vermag so der Politik den gesellschaftlichen Reichtum nicht zu erschliessen und die gesellschaftlichen Probleme auch nicht zu lösen.

6. Die vorwiegend repräsentative und nationale Demokratie bedarf heute der direktdemokratischen und transnationalen, zumindest europäischen Erwei­terung.

7. Die Güte der Direkten Demokratie hängt von der Qualität ihrer Ausge­staltung ab. Besonders zu beachten: Bürgerfreundliche Einstiegshürden (Grosse Schwäche in den deutschen Bundesländern), Beteiligungsquoren (Schwäche Italien und Weimar), Schnittstellen zu den Menschenrechten (Schwäche Schweiz) und zum Parlament (Schwäche Kalifornien).

8. Eine sorgfältig und direktdemokratische Elemente erweiterte repräsen­tative Demokratie macht diese nicht nur repräsentativer, sondern erhöht die gesellschaftliche Lernfähigkeit, Legitimität und Integrationskraft, ebenso die Identifikation des Einzelnen mit dem Ganzen und schafft mehr kommunikative Öffentlichkeit – alles und genau die Dinge, welche die EU derzeit am dringendsten gebrauchen könnte.

9. Die Demokratie braucht also nicht nur Europa, auch Europa braucht mehr Demokratie – was sie ursprünglich auch bekommen sollte. A. Spinelli, L. Blum, H. Spaak und Carlo Schmid erhofften sich von der Parlamentarischen Versammlung des Europarates 1949/50 die verfassungsgebende Versammlung Europas.

10. Der Kalte Krieg verunmöglichte dieses Projekt. Monnet& Schuman wollten dies 1941/42 auch, erkannten aber 1949/50 dass die Europäische Integration nur wirtschaftlich, vertraglich und gouvernemental fundiert werden konnte. Aus ihrem Umweg wurde der Königsweg, den 1991/92 trotz Globalisierung niemand demokratisieren wollte, trotz Euro und der Währungsunion.

11. Die exekutive Hegemonie sowie die zu hohe Zentralität in der EU sind vertragsbedingt. Es ist eine schwere Verantwortung der deutschen Staatsrechtslehre den revolutionären Unterschied zwischen einem Vertrag und einer Verfassung klein zu schreiben. Der Terminus Verfassungsvertrag ist ein verantwortungsloser Euphemismus.

12. Historisch gab es zur Europäischen Integration als Eliteprojekt keine Alternative. Doch dies bedeutet nicht, dass sie ein Eliteprojekt bleiben muss. Zumal die lebensweltliche Integration Europas derjenigen der Politik weit voranging. Die Renationalisierung Europas und die gänzliche Banalisierung der Demokratie kann nur durch die demokratische Verfassung Europas verhindert werden.

13. Mehr Demokratie bedeutet auch in der EU eine feinere Verteilung der Macht: Dies geschieht nie ohne Druck von unten, der Bürgerinnen und Bürger. Wer zu viel Macht hat, wird erst bereit sein zu teilen, wenn er fürchtet, sonst alle zu verlieren (frei nach Erhard Eppler).

14. Die EU braucht mehr Demokratie, sowie die Demokratie mehr Europa braucht. Doch beides setzt eine europäische demokratische BürgerInnenbewegung voraus.

15. Vielleicht kann diese mit Hilfe der neuen Europäischen Bürger-Initiative (ECI) entstehen. Sie könnte verlangen, dass in die EU-Verträge eine Klausel eingebaut wird, mit deren Hilfe die EuropäerInnen einen echten Europäischen verfassungsgebenden Prozess auslösen könnten, dessen Etappen die Direktwahl eines echten Verfassungskonvents und ein doppeltes europäisches Verfassungsreferendum wären.

16. Auch weite Wege beginnen mit vielen kleinen Schritten. Und wer das scheinbare Unmögliche nicht denkt, der kann das Mögliche nicht möglich machen.
Jean-Paul Sartre/Paul Nizan «Ne rougissez pas de vouloir la lune: il nous la faut !» (1971/Le Monde Dipl/Juli 2011) - «Sie müssen sich nicht schämen, weil sie nach den Sternen greifen wollen: Wir müssen dies tun!»


Kontakt mit Andreas Gross



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