28. Juni 2011

NZZ

Aland-Autonomie: Die Verfassung definiert die Verhandlungsdisposition, und das verhindert,
dass es zu Spannungen kommt



Zaslawski, NZZ

Ich habe Ihren äusserst interessanten und aufschlussreichen Autonomie-Bericht gelesen. Die Frage, ob Sie Autonomie als konfliktlösenden Mechanismus betrachten, bleibt Ihnen daher erspart. Ebenso die Frage, ob sich Ihrer Meinung nach der Fall Aland als Modell bezeichnen lässt und ob er auf andere Konflikte anwendbar ist. -- Kann man nicht doch behaupten, dass Autonomie oft zu Unabhängigkeit führt oder zumindest zur Forderung nach Unabhängigkeit (Beispiel Kosovo)? Nach dem Motto: Gibt man ihnen den Zeigefinger, wollen sie die ganze Hand? Wie gross ist ausserdem die Wahrscheinlichkeit, dass andere Regionen nachziehen werden?


Die Autonomie ist weniger eine Perspektive für jene, die Unabhängigkeits­gelüste mit sich tragen, sondern eine Idee für alle, die gar keine solchen Unabhängigkeitsgelüste aufkommen lassen wollen. In Kosovo kam es zu diesem Missverständnis, weil der Begriff auch in den alten totalitären Systemen der Sowjetunion und Jugoslawien auch existierte, freilich mit einem ganz andern Inhalt und vor allem einer ganz anderen Identität. So kann es keine wirkliche und gesicherte Autonomie geben ohne Demokratie und Rechtsstaat und der Gewaltenteilung. Davon gab es in der UdSSR und auch Jugoslawien freilich wenig bis gar nichts.

Deutet das Beispiel Nagorno-Karabach nicht auf die problematischen Seiten der Autonomie hin? Beziehungsweise, inwiefern kann Autonomie als Auslöser von Konflikten bezeichnet werden?

Das heutige Nagorno-Karabach hat nichts mit echter Autonomie zu tun. Es ist heute ein Teil von Armenien. Der Krieg von vor bald 20 Jahren war eine Konsequenz stalinistischer Teile-und-herrsche-Politik. Er hat Grenzen willkürlich verschoben und nannte Regionen autonom, die wenig mit dem heute von uns gemeinten Begriff zu tun hatten. Eine Autonomie kann für gewisse Teile von Nagorno-Karabach ein Teil einer künftigen Kompromisslösung sein, wobei es völlig offen ist, in welchem Staat diese Region autonom sein würde.

Ausserdem interessiert mich die Frage, ob Autonomie nicht gegen das Gleichheitsprinzip verstösst (Autonomie im Widerspruch mit dem Prinzip der Nichtdiskriminierung)?

Wenn schon Nichtdiskriminierung, dann meint die Autonomie eine bewusste positive Diskriminierung aus historisch kulturellen Gründen. Ungleiches darf man ungleich behandeln und dies kommt in der Autonomie zum Ausdruck und verhilft dem durch Differenzen geprägten Staat zu einer integrativen Kraft. In Spanien sind gewisse Regionen autonom, weil eben nicht alle Regionen gleich unterschiedlich sind. Das ist genau der Unterschied zum Föderalismus: Der Föderalismus ist eine Form der Dezentralisierung, in der alle gleich behandelt werden; die Autonomie vor allem in Spanien entspricht einer Art ungleichem Föderalismus: Die Dezentralität hat unterschiedliche Reichweiten und es werden bewusst nicht alle gleich behandelt, sondern teilweise eben positiv diskriminiert. Dies in einer gesamtstaatlichen Verfassung also als Ausdruck des Willens aller, bzw. der Mehrheit aller.

Wieso soll Region X über Autonomie verfügen, Region Y aber nicht?

Das kommt auf deren unterschiedliche Geschichten und Kulturen an. Gewissen Regionen wollen gar keine Autonomie, weil sie gleich sind wie andere. Autonomie definiert sich nicht geografisch über die Region, sondern die Region ist eine organisatorische Struktur für das kulturelle und politische Selbstorganisationsrecht auf Grund vorhandener geschichtlicher und kultureller Eigenheiten und Differenzen.

Kann diese ungleiche Behandlung nicht zu Konflikten führen (falls die Region Y auch Autonomie fordern wird)?

Freiheit führt immer zu Konflikten. Das heisst aber noch nicht Gewalt. Es können immer Entwicklungen stattfinden, in denen Autonomien gestärkt, gemehrt, neue definiert werden. Autonomie ist oft ein permanenter Prozess der Veränderung; wichtig ist, dass beispielsweise in der Finnischen Verfassung auch definiert wird, wie diese Entwicklung und normalen Konflikte angegangen, ausgetragen und neu verrechtlicht werden sollen.

Wo setzt man Grenzen; wer hat das Recht auf Autonomie und wer nicht (Völker, Minderheiten)?

Wie alle Verfassungsregelungen ist die Autonomie die Frucht einer Vereinbarung zwischen ungleichen Teilen: Einer grossen Mehrheit des Einheits- oder Zentralstaates und der autonomen Region, bzw. der autonomen Regionen innerhalb des Staates, die untereinander sogar auch unterschiedlich sein können (siehe Italien).

Auf welche(n) Konflikt(e) würde sich Ihrer Meinung nach das Modell Aland heute am besten anwenden lassen - und inwiefern?

Die Weisheit, die dem Alander Urteil zugrundeliegt, wäre auf viele verschiedene Regionen anzuwenden. Schwieriger dürfte dies heute sein, weil 1921 alle Beteiligten im Vorfeld jegliches Urteil des Völkerbundes im Voraus zu akzeptieren. Diese Bereitschaft fehlt heute an vielen Orten. Zweitens wird die Alander Autonomie in der finnischen Verfassung geregelt und ist dort so geschützt, dass sie nicht einseitig verändert werden kann. Sie wird dort also als permanenter Prozess und Verhandlungsgegenstand begriffen und es gibt eine Art definierte Verhandlungsdisposition, was verhindert, dass es zu Spannungen kommen kann.

(Wie) lässt sich das Modell Aland überhaupt definieren?

Das geniale am Alander Urteil des Völkerbundes war eben, dass alle Interessierten etwas und erst noch nicht das bekamen, was sie ursprünglich wollten. Dabei waren nicht nur Schweden und Finnen, sondern auch die Alander und die Russen interessierte Partner. Keiner bekam was er wollte, doch alle etwas und heute sind damit alle glücklich. Demokratisch hätte man sich damals allerdings darauf nicht einigen können, weil jeder das Angebot aus Genf abgelehnt hätte. Das ist für einen Demokraten nicht einfach zu schlucken; es zeigt aber, dass es manchmal auch weise und dauerhafte Entscheidungen aussenstehender Experten gibt, für die es im Moment keine Mehrheiten gäbe, die aber langfristig höchst segensreich sind.


Kontakt mit Andreas Gross



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