8.6.11
vpod dialog
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Parteienlandschaft Schweiz vor den Wahlen
Die Schwäche der einen ist die Stärke des anderen
Vor den eidgenössischen Wahlen 2011 zeigt sich die schweizerische Parteienlandschaft noch veränderter als vor vier Jahren. Die Schweiz der Konkordanzpolitik von 1959 bis 1999 gibt es nicht mehr. Was ist geschehen? Wo stehen wir? Was ist zu tun? Der vpod dialog befragte den Politikwissenschafter und SP-National- und Europarat Andi Gross.
Die Fragen stellte Katharina Kerr
vpod dialog: Bis 1999 funktionierte die eidgenössische Politik nach dem Konkordanzprinzip: Drei stärkere bürgerliche Parteien, FDP, CVP und SVP, regierten zusammen mit der (oder gegen die) SP und konnten im Parlament auf Mehrheiten zählen. 1999 und 2003 gewann die Blocher-SVP die Wahlen und dominiert seither mit ihrer antisozialen, fremdenfeindlichen und auch absurden Politik die Schweiz. Warum? Was hat im Bundesrat, was im Parlament geändert? Wie zeigen sich die Parteien heute?
Andreas Gross: Das sind drei Fragen, deren Antworten in der notwendigen Sorgfalt und Tiefe ein kleines Buch füllen würden. Der Aufstieg der SVP seit 1995 ist das eine, dessen Konsequenzen für die Konkordanz das andere und ein drittes Element ist eine ganz neue Entwicklung sowohl im allgemeinen Verständnis der Konkordanz wie auch in der gegenwärtigen Praxis.
Zum ersten: Ihren Aufstieg verdankt die SVP vor allem zwei sehr unterschiedlichen Wählersegmenten: Einerseits den sehr egoistischen technischen Mittelschichten, die in der ländlichen Agglomeration in einem Einfamilienhaus mit zwei Autos wohnen, in der Stadt, vor allem im besseren Dienstleistungssektor arbeiten, möglichst keine Steuern bezahlen wollen und wenig von Sozialleistungen haben. Dieses Segment macht nur etwa ein Drittel der Wähler aus, prägt aber die Arbeit der SVP-Fraktion. Das zweite Drittel der Wähler sind jene, die eigentlich links wählen müssten, weil wir deren objektive Interessen und Bedürfnisse im Parlament vertreten: Diejenigen, die durchschnittlich und weniger verdienen, in der näheren Agglomeration in einem Mehrfamilienhaus wohnen, Angst haben um ihre Existenz, ebenso vor der Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt, nicht optimal ausgebildet sind und die politische Orientierung verloren haben. Sie lassen sich von der SVP Fremde, Flüchtlinge, Muslime, Ausländer und vielleicht sogar böse Linke als Ursache ihrer Probleme und Ängste aufschwatzen und wir schaffen es nicht, sie davon zu überzeugen, dass sie irregeführt werden; denn die SVP agiert in den Parlamenten genau so, dass diese Menschen noch mehr Angst haben müssen, während wir versuchen, eine Wirtschafts-, Steuer und Sozialpolitik zu realisieren, welche die Quellen ihrer Ängste versiegen lassen würde.
Zum zweiten: Die Konkordanz ist weit mehr als eine mathematische Formel zur proportionalen Verteilung der Bundesratssitze entsprechend der Wähleranteile. Sie setzt minimale gemeinsame programmatische Schwerpunkte und Perspektiven voraus. Eine Erkenntnis, die mittlerweile von den meisten eingesehen wird. Der Blocher-SVP fehlen die entsprechenden konkordanten Voraussetzungen; deshalb hatte sie auf die Performance des Bundesrats eine so schlechte Wirkung.
Neuerdings vermochten sich die beiden Bundesratsfrauen der traditionellen Mitte (CVP und BDP) von der Blocher-SVP zu emanzipieren und verhelfen der Konkordanzidee zu einem frischen Antlitz. Freilich sind wir heute nicht mehr in der Epoche der grossen, alle wichtigen Parteien umfassenden Konkordanz wie zwischen 1959 und 1995, sondern in einer Zeit der kleinen Konkordanz, aus der die Blocher-SVP sich ausgeklinkt hat.
Du schreibst im PS: «Viele Menschen empfinden sich nicht als freie Bürger oder als freie Bürgerinnen, sondern mehr als Opfer der Entscheidungen anderer. Freiheit ist somit zu einem Privileg weniger Privilegierter geworden. Für die Demokratie bedeutet dies: Sie ist in einer Krise.» Was ist dagegen zu tun?
Angesichts globaler Finanz- und Wirtschaftsmärkte ist der Nationalstaat heute für die Demokratie zu klein geworden. Das substanzielle Versprechen der Demokratie, eine faire Verteilung der Lebenschancen, kann sie nur noch verwirklichen, wenn sie endlich transnational, zumindest kontinental, verfasst werden kann. Deshalb können wir die Demokratie nicht ohne Europa retten, doch gleichzeitig müssen wir endlich auch die EU demokratisieren und föderalisieren. Sonst wird die Demokratie zum Auslaufmodell und die Freiheit bleibt ein Privileg der Privilegierten – und somit das Gegenteil dessen, was seit der Französischen Revolution gemeint war.
Wie können wir es in der Schweiz schaffen, dass, ich zitiere Dich, «für alle Menschen – nicht nur für jene mit dem richtigen Pass - faire Lebenschancen bestehen»? Das heisst auch: Wie bringen wir Mehrheiten für fortschrittliche Anliegen zustande?
Zuerst müssen wir lernen, zu Hause Europa zu verwirklichen: Das heisst nach fünf Jahren Aufenthalt allen die demokratischen Grundrechte zugestehen – unabhängig von der Farbe ihres Passes. Anderseits müssen wir lernen, dass ohne Europa wir auch unsere eigene Demokratie verlieren. Wir müssen also andere bei uns integrieren und uns selber ebenso in Europa einfinden und gleichzeitig die EU reformieren. Das geht nicht anders, als selber sich besser informieren, mit anderen besser orientieren und so die Kraft finden, mit all jenen ins Gespräch zu kommen und sie von unseren besseren Alternativen überzeugen, die uns bisher skeptisch gegenüberstehen oder uns ablehnen, weil sie uns gar nicht kennen. Hunderttausende von solchen Gesprächen und kommunikativen Anstrengungen – das ist der steinige, aber unausweichliche Weg zu neuen Mehrheiten!
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Andreas Gross
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