20. Mai 2011

La Regione Ticino

Es braucht die Stärkung der Demokratie:
Wir dürfen nicht länger zusehen, wie die
Wirtschaft die Staaten erpresst



Die Fragen für la regione stellte: Silvano De Pietro

RT: Der Wahlkampf beginnt mit der Voraussicht, dass die Rechte sich durchsetzen wird. Die SP wird noch etwas an Boden verlieren und die Grünen werden ihre Position halten. Wie stark ist die Krise der Linken in der Schweiz von der allgemeinen Krise der Linke in Europa konditioniert?

Ich teile zwar ihren allgemeinen politischen Pessimismus, denke aber doch, dass die Sozialdemokraten noch viel tun könnten, um ein schlechtes Ab­schneiden bei den kommenden Wahlen zu vermeiden. Wir müssten sehr offensiv die Krise der Politik thematisieren, welche sich in den allgemeinen Ohnmachtsgefühlen vieler äussert, ebenso in deren Abwendung von der Politik, dem Unbehagen, das viele äussern. Dazu gehört auch das entschie­dene Entgegentreten gegen die Politik der Angst der SVP und deren Nationalismus. Darüber müssen alle SP-National- und Ständerats­kandi­datInnen drei Monate lang jeden Tag mit mindestens 200 Menschen ins Gespräch kommen und so die Irrtümer korrigieren, die diese über die SP hegen, ebenso wie ihnen zeigen, dass es besser ist, SP zu wählen als zu Hause zu bleiben und jenen das Parlament zu überlassen, welche privilegierte Sonderinteressen dem Allgemeinwohl und dem Gemeinsinn vorziehen.

Doch ihre Grundsatzfrage hilft uns tatsächlich weiter. Die Krise der Linken in Europa und die Krise der schweizerischen SP haben tatsächlich einen gemeinsamen Kern: Der liegt in der massiv abnehmenden Autonomie des Staates, der damit verbundenen schwächer werdenden Demokratie und der ebenso damit verknüpften immer stärker werdenden Herrschaft des Kapitals, der Märkte und der Wirtschaft ganz allgemein. Unter diesen Entwicklungen leidet die Linke am meisten. Ohne starke Demokratie wird die Linke immer schwächer. Das lässt sich nur beheben, wenn es uns gelingt, die Demokra­tie auch auf transnationaler, europäischer Ebene zu verfassen und so das Primat der Politik wieder herstellen, womit wir auch die Märkte wieder im Allgemeininteresse zivilisieren, zur Rücksicht zwingen könnten und nicht länger zusehen müssten, wie die Wirtschaft die Nationalstaaten erpresst.

Warum neigen in der Schweiz genau die Volksklassen, die traditionell Linkswähler waren, immer mehr dazu, die SVP zu wählen?

Das ist in der Schweiz ganz gewiss das zentrale Problem. Wenig Privilegierte wählen heute mit der SVP Leute ins Parlament, welche dort primär die Interessen der Privilegierten vertreten. Diesem kollektiven Irrtum liegen viele Gründe zugrunde. Erstens versteht es die SVP mittels der unberechtigten Angst vor dem und den Fremden, viele einfache Bürger an sich zu binden, die dann gar nicht erkennen, wen sie da eigentlich unterstützen. Die Politik mit der Angst ist wie ein spanischer Vorhang der SVP, welche ihre wirklichen Taten verdeckt und vernebelt. Zweitens besteht vor allem in der deutschen Schweiz derzeit eine politische Öffentlichkeit, welche diese Manipulation nicht hinterfragt und kritisiert, sondern sogar noch begünstigt: Wenn Medien nur noch skandalisieren, personalisieren und auf schnelle Effekte aus sind, dann fördern sie diese Fehlleitung der Aufmerksamkeit. Drittens fehlt der Schweizer Demokratie die notwendige Infrastruktur, so dass sie immer schwächer wird, ihren Verfassungsauftrag nicht erfüllen kann und viele einfache Bürger orientierungslos allein lässt: Die Parteien haben die Mittel nicht, ihren Job anständig zu machen; die politische Bildung ist gleichsam inexistent, die Politik ist kolonialisiert und von Sonderinteressengruppen besetzt, die Parlamentarier können ihren Job nicht richtig tun: Angesichts eines solchen Gegenwindes, kann die SP viel zu wenig Kraft entfalten und Wirkung erzielen.

Um Links erfolgreiche Politik zu betreiben - welches Verhältnis zwischen Umweltschutz, Lebensqualität und Sozialpolitik muss man heute einhalten?

Das sachpolitische Profil der SP ist meines Erachtens überhaupt nicht das Problem: Wir haben begriffen, dass Ökonomie, Ökologie, Sozialpolitik und eine liberale Gesellschaftspolitik zu einem richtigen Ganzen gehören wie die Sonne, die Seen, die Täler und Lugano, Bellinzona und Locarno zum Tessin. Bei uns stimmt auch das Verhältnis zwischen diesen Schwerpunkten und wir wissen im Unterschied beispielsweise zu den vermeintlich Grünliberalen, dass auf die Natur niemals Rücksicht nimmt, wer sich selber in seiner Arbeitswelt und sozial rücksichtslos behandelt fühlt. Unser Problem ist nicht die Sachpolitik, sondern vielmehr wie oben angesprochen unsere Unfähigkeit, genug Menschen deutlich zu machen, was wir wirklich tun, weshalb wir uns zu wenig durchsetzen können und weshalb sie sich nicht irreführen sollten von Parteien, die nur Probleme bewirtschaften statt ihre Ursachen wirklich anzugehen und so die Problemlösung einzuleiten.

Sind die Grünen im Linkslager zu sperrig geworden? Oder politisiert die SP für die Umwelt und Lebensqualität zu schüchtern?

Grüne und SPler sind Konkurrenten mit sehr ähnlichen Schwerpunkten und Zielsetzungen. Je nach Ort und Generation funktionieren sie manchmal etwas anders oder haben unterschiedliche soziale Zusammensetzungen. Sie sollten sich beide weniger mit sich beschäftigen, sondern viel mehr versuchen, jene anzusprechen, die fälschlicherweise meinen, die Politik gehe sie nichts an oder sich von bürgerlichen Parteien verführen lassen, die nur vorgeben, die Interessen und Bedürfnisse jener zu vertreten, die wenig Geld haben und von den Früchten ihrer Arbeit leben.

Worin besteht in der Schweiz die höhere Gefahr für die Linke und die SP: Ökologie oder Populismus?

Die ökologischen Herausforderungen sind für die SP keine Gefahr, sondern eine Aufgabe, die wir zu bewältigen wissen und der wir gerecht werden können. Wirklich gefährlich ist der Populismus, mit all seiner Demagogie, seinen Simplifizierungen, seine Irreführungen, der all jene einlullt, welche zu wenig Zeit haben und sich zu wenig Zeit nehmen, über die wirklichen Probleme nachzudenken, mit Freunden zu diskutieren und so deren Gründe auf die Spur kommen statt dem populistischen Diskurs zum Opfer zu fallen. Noch gefährlicher ist derzeit aber der wieder in allen Ländern und vielen Kantonen spürbare Nationalismus - ein anderer Ausdruck der Krise unserer Demokratie - welcher den Menschen vorgaukelt, man könne irgend ein wesentliches Problem alleine besser lösen als mit den anderen, auch den anderen jenseits der Landesgrenzen. Diesen Nationalismus müssen wir ebenso bekämpfen und das können wir nur dann erfolgreich tun, wenn es uns gelingt, ein demokratischeres und föderalistisches Europa zu bauen, das der notwendigen transnationalen Zusammenarbeit die entsprechende Form gibt, mittels der sich die Bürger zu recht finden können und nicht den Eindruck haben, alleine und verlassen zu sein. Auch dieser Eindruck ist Gift für die SP und einer der Gründe, weshalb es uns und der Demokratie heute so schlecht geht.


Kontakt mit Andreas Gross



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