Juni 2002
Glauben heute
Ausgabe Juni 2002
|
Was macht die Linke falsch?
In Ungarn haben die Sozialdemokraten kürzlich die Wahlen gewonnen. In einer ganzen Reihe anderer europäischer Länder aber wurden die Vertreter linker Parteien aus der Regierung verdrängt. Umgekehrt erfreuen sich Rechtspopulisten starken Zulaufs. Sitzt die europäische Linke auf dem absteigenden Ast? Ein Interview mit dem Politikwissenschafter und SP-Nationalrat Andreas Gross.
Von Martin Leutenegger
Herr Gross, nachdem Mitte der neunziger Jahre in den meisten europäischen Ländern noch Vertreterinnen und Vertreter linker Parteien an der Macht waren, kann man heute die verbliebenen sozialdemokratischen Regierungen an einer Hand abzählen. Hat die Linke etwas falsch gemacht, oder handelt es sich bei diesem "kontinentalen Machtwechsel" bloss um die Bewegung eines Pendels, das nach einem Ausschlag nach links nun einfach wieder nach rechts zurück schwingt?
Nationalrat Andreas Gross: Hinter dem Phänomen steckt mehr. Gewiss haben einige linke Regierungen, linke Politikerinnen und Politiker die Erwartungen nicht erfüllt und viele Menschen enttäuscht. Ich glaube aber, dass es sich bei diesem Rechtstrend zumindest teilweise um eine Art Widerstandsbewegung gegen die Macht der Wirtschaft handelt, und gegen «die da oben», denen sich grosse Teile der Bevölkerung schutzlos ausgesetzt fühlen.
Kann man denn nicht davon ausgehen, dass gerade die Linksparteien als die Interessenvertreter der «kleinen Leute» gelten?.
Während Jahrzehnten machte es tatsächlich den Anschein, als ob die Linke das Monopol hätte im Kampf gegen «die Herrschenden». Eigentlich ist das immer noch der Fall, auch wenn dies die Betroffenen anders sehen. Heute sind viele Arme und Benachteiligte offenbar der Meinung, die Linke gehöre selber zur herrschenden Schicht, von der sie nicht mehr ernst genommen werden. Aus diesem Grund geben sie die Stimme anderen Parteien. Das deutet auf Mängel in der Vermittlung der eigenen Arbeit der Linken hin.
Wie erklären Sie sich den Umstand, dass Arbeiterinnen und Arbeiter der Meinung sind, die Rechte vertrete ihre Anliegen heute besser als die Linke?
Im Gegensatz zu Frankreich und Italien hilft in der Schweiz die Kategorie "Arbeiter" nicht weiter, wenn es darum geht, das Wahlverhalten zu erklären. In der Schweiz arbeiten noch höchstens 15 bis 20 Prozent aller Berufstätigen im blauen - oder gelben oder orangeroten - Übergwändli, davon sind mindestens die Hälfte Ausländerinnen und Ausländer, die leider noch nicht über das Wahl- und Stimmrecht verfügen. Zusammen mit den Niederlanden gehört die Schweiz zu jenen Ländern, in denen der Wandel von der Industrie- zur Dienstleistungsgesellschaft am deutlichten war.
Ob Fabrikarbeiterin oder Zimmermädchen im Hotel - die Arbeitsbedingungen scheinen doch weitgehend dieselben zu sein ...
Ein gut ausgebildeter Facharbeiter verdient heute sogar mehr als viele Angestellte im Dienstleistungsbereich. Ferner gibt es auch hier viel monotone, schlecht bezahlte Arbeit, vor allem am Computer. Wer im unteren Bereich des Dienstleistungssektors tätig ist, betrachtet sich jedoch oft nicht als "Arbeiter" und neigt bei Wahlen in der Schweiz heute eher der SVP zu als der SP. Hier hat in den letzten 30 Jahren ein grundlegender Wandel stattgefunden.
Ohne die einzelnen Politiker in die gleiche Schublade stecken zu wollen, ist es doch so, dass die meisten Rechtspolitiker - von Christoph Blocher über Silvio Berlusconi und Jean-Marie Le Pen bis zum ermordeten Pim Fortuyn - allesamt Millionäre sind. Wie können benachteiligte Bürgerinnen und Bürger glauben, ausgerechnet diese Personen würden ihre Probleme lösen?
Offensichtlich gelingt es ihnen, die Wählerinnen und Wähler dies glauben zu lassen. Ihr wirtschaftlicher Erfolg und die öffentliche Rhetorik legitimieren offenbar ihre Politik, selbst wenn sie ganz konkret andere Interessen vertreten. Eine grössere Rolle als die Anziehungskraft der Rechten spielt aber meines Erachtens die Enttäuschung über die Leistungen der Linken: Mitte der neunziger Jahre war diese in Europa mit dem Anspruch aufgetreten, zu verhindern, dass die (Welt-)märkte die Gesellschaften gestalten. Hier wollte die Linke politisch gegensteuern und ausgleichen. Zum Beispiel mit dem Anspruch, über den Staat für einen Ausgleich zu sorgen zwischen Arm und Reich, den "kleinen Leuten" Schutz zu bieten und ihnen zu helfen, sich zu wehren. Diesen Anspruch konnte die Linke nicht einlösen und so kam es zur Enttäuschung; je ärmer jemand war, desto grösser war seine Enttäuschung.
Was hätte die Linke denn bieten müssen oder können, um eine solche Enttäuschung zu verhindern?
Die Linke hätte in erster Linie klar machen müssen, dass sich die Zeiten geändert haben. Auf nationaler Ebene ist den Märkten nicht mehr Herr zu werden; umso mehr muss Europa hierfür demokratisiert und föderalisiert werden. Markt und Demokratie müssen auf der gleichen Ebene agieren können, damit die Politik - demokratisch legitimiert - den Märkten sozial- und umweltverträgliche Grenzen setzen und die Märkte zivilisieren kann. Der Rechten ist es gelungen, die Leute glauben zu lassen, durch politische Massnahmen auf nationaler Ebene - zum Beispiel durch eine strengere Ausländerpolitik oder durch Distanz zur Europäischen Union - könnten die anstehenden Probleme gelöst werden. Tatsächlich erwarten viele Menschen die Lösung der Probleme noch immer von der nationalen Politik. Dies hat zwar in den letzten 100 Jahren funktioniert, doch die nationale Politik allein kann heute für viele Probleme keine Lösung mehr anbieten. Dies den Menschen bewusst zu machen und zu erklären, hat die Linke versäumt. Gerade die Linke, die zeitweise in der EU und ihren entscheidenden Organen die Mehrheit innehatte und dabei dennoch den Eindruck verfestigte, bei der EU handle es sich um ein elitäres und technokratisches Gebilde. Die Linke hätte zeigen müssen, dass die Schweiz ohne Europa nicht existieren und ohne die EU nicht sozialer und demokratischer werden kann. Anderseits stehen wir vor der Herausforderung, die bestehende EU zu reformieren, zu demokratisieren und zu föderalisieren. Dazu hätte die europäische Linke einzigartige Möglichkeiten gehabt, doch sie hat es versäumt, sich zur Anwältin eines demokratischen Europa zu machen.
Und was sagen Sie verunsicherten ehemaligen Linkswählern, die aus ihrer Ohnmacht nicht herausfinden?
Ohnmacht ist Ausdruck von fehlender Demokratie und schafft Gewalt. Die Macht der Menschen hat jedoch nichts mit der Geografie zu tun, sondern mit der demokratischen Verfassung, die sie sich geben. So ist es unter den gegebenen Umständen einfacher, Europa demokratisch zu gestalten als 1848 die Schweiz. Heute sind die Kantone demokratisch am feinsten ausgestaltet, wogegen die Wirtschaft demokratiepolitisch ein totales Entwicklungsgebiet ist. In Bezug auf die Demokratisierung der Wirtschaft sind uns fast alle Länder Westeuropas meilenweit voraus. Da haben wir - in Zusammenarbeit mit Europa - noch einiges nachzuholen.
Andreas Gross
Nach oben
|