März 2001

16 Thesen zum politischen Sinn
des real-utopischen Denkens


1. Das grösste Missverständnis in der Schweiz in unserem Zusammenhang: Eine Utopie sei das gleiche wie eine Illusion. Es reicht auch nicht, wie viele hierzulande glauben, sich gegen Utopien auszusprechen, um Realist sein zu können (MF). Ganz im Gegenteil: Eine Utopie ist das, was möglich wäre, aber noch nicht ist und auf unser Handeln wartet, damit es wird. Ein Realist muss auch das sehen, was unter der Oberfläche der Wirklichkeit als Möglichkeit schlummert und morgen, vor allem dann, wenn wir was tun dafür, Realität werden kann.

2. Wenn wir auf den ersten Menschen zurückgreifen wollen, der ein Buch schrieb über Utopia (Thomas Morus, 1516), in dem er von einer Insel jenseits der Welt schrieb, von der ihm ein heimgekehrter Seefahrer berichtet hat, der auf ihr gewesen und sie besucht haben soll, dann erkennen wir erstens das erkenntnistheoretische Paradox, das in diesem Konzept steckt, und zweitens beschrieb er eine bessere Welt, eine für die meisten Menschen bessere und anzustrebende Alternative zur gegenwärtigen, realen Existenz. Utopien sollten sich also daran messen lassen, ob sie für alle Menschen etwas besseres in sich bergen.


3. Eine politische Utopie zeichnet sich in diesem Sinn vor allem durch vier Elemente aus: Erstens äussert sie eine Kritik am Status Quo, zweitens entwickelt sie eine konkrete Alternative zu ihm, drittens sucht sie nach dem anderen Möglichen im jetzt und viertens bringt sie den Willen zum Ausdruck, sich auch für das bessere mögliche Andere zu engagieren, dafür politisch etwas zu tun.

4. In diesem Sinne lehren uns Utopien, in Alternativen zu denken, nicht uns auf Kritik zu beschränken, sondern daraus auch eine Handlungsperspektive zu entwickeln und ermutigt uns zum Engagement.

5. Utopien sollten also eine Quelle der Ermutigung zum Engagement und zum politischen Handeln sein und kein Medium zur Flucht aus der Wirklichkeit und kein Anlass zur Resignation.

6. Das bedeutet allerdings, dass man eigene Schwächen und Unzulänglichkeiten wie auch die Diskrepanz zwischen der Wirklichkeit und dem besseren Anderen aushalten können muss. Am besten schafft man dies, wenn man von sich sagen kann, dass man sein Mögliches zur Reform des Bestehenden und zu dessen Veränderung leistet.

7. In seiner bisher fast 500 jährigen Geschichte kannte das utopische Denken verschiedene Phasen, Eigenheiten und Entwicklungen. Es wurde auch im Lichte von realen Erfahrungen immer wieder anders interpretiert und anders entwickelt. Bis heute politisch sehr bedeutsam ist die Erfahrung nach der Französischen Revolution, deren Terrorregime vor dem Ende des 18. Jahrhundert von konservativen und teilweise liberalen Politikern seither bis heute dem politisch utopischen Denken ganz allgemein überantwortet wird; so nach dem (m.E. resignativen und falschen) Motto, der Mensch sei zum Guten nicht fähig ausser man würde ihn mit Gewalt dazu zwingen.

8. In dieser Behauptung steckt gewollt oder unbewusst eine wichtige Verkennung utopischen Denkens: Der Weg muss auch das Ziel sein. Mit anderen Worten man kann nicht etwas in einer Form verwirklichen, welche diesem Inhalt widerspricht. Zum Beispiel: Gerechtigkeit lässt sich nicht mit Gewalt, also mit Unrecht, herbeiprügeln.

9. Politisch bemerkenswert und äusserst folgenreich, allerdings wiederum eher negativ, ist auch, dass die in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts aufkommenden Sozialisten, die grössten Reformer und Gesellschaftsveränderer ihrer Zeit, zwar die Utopisten vor ihnen als Vorläufer wohlwollend gleichsam duldeten, selber aber einen sehr negativen Begriff der Utopie pflegten (Schwärmer, Träumer und Schlimmeres ) und ihre eigene Methode der Gesellschaftsanalyse und Veränderung dogmatisch als «wissenschaftlich» verstanden und dabei verkannten, dass es vor allem auch auf das Engagement des Menschen, auf ihn als handelndes Subjekt ankommt, wenn er seine Existenz verbessern möchte.

10. Vor allem die Utopien des 18. und 19. Jahrhunderts waren auch ausserordentlich statisch und erwiesen sich als autoritär. Ein Mensch, meistens ein Mann, dachte sich eine bessere Alternative aus, er gewann dafür Menschen, die oft auswanderten und irgendwo als eine «gute Insel in der schlechten Welt» (Nach 1968: «Inseln der Zukunft»!) mit dem Autor und seinem Werk, gleichsam ein Rezeptbuch, sich an den Aufbau dieser «Alternative» machten. So aber hatten alle wenig Chancen, von ihren eigenen Erfahrungen zu lernen, Wege und Ziele im Lichte dieser Erfahrungen zu revidieren. Den meisten Utopien war denn auch eigen, dass in ihnen keine Konflikte existieren, obwohl diese natürliche Kinder der Freiheit sind und die grosse Utopie eigentlich die zivilisierte Austragung notwendiger Konflikte wäre (=Demokratie).

11. Erst zu Beginn des 20.Jahrhundert entwickelte der deutsche libertäre Sozialist Gustav Landauer ein freiheitliches, prozessorientiertes, dynamisches Verständnis von politischen Utopien. Für ihn war die jeweilige Realität eine «Topie», denen engagierte Reformer (vor allem Linke) alternative Projekte und Ideen (eben Utopien) gegenüberstellten. In dem Masse, in dem die Reformerinnen und Reformer erfolgreich waren («Revolution») bewegte sich die Realität von der Topie zur Utopie.

12. Damit verstand Landauer allerdings die Utopie weniger als Zielstrich, den es einmal zu erreichen gilt, sondern als Richtung, als Orientierungspunkt. Und er betonte, dass, je näher eine sich verändernde Gesellschaft der alten «Utopie» kommt, desto eher diese abgelöst wird durch eine neue Utopie, in welche die Erfahrungen während der Veränderung in Form der Weiterentwicklung der alten Alternative eingehen.

13. In diesem Sinne sind eigentlich alle grossen Utopien wie die Freiheit, der Frieden, die Demokratie und die Gerechtigkeit asymptotisch zu verstehen: Das heisst der Sinn der Reform des Bestehenden ist es sich ihnen anzunähern im Wissen, sie nie ganz erreichen zu können. Das Ergebnis von erfolgreicher Reformarbeit ist also nicht eine perfekte, neue Welt, sondern der Abbau der Unvollkommenheit im Wissen, Vollkommenes nicht schaffen zu können, weil es eben kein «Ende der Geschichte» und kein Ende der so verstandenen Utopie gibt.

14. Dieses Bild der Asymptote und die Erkenntnis des nie endenden Prozesses zeigt uns auch wie Fortschritt verstanden werden kann: Als ewiger Lernprozess, voll von Hindernissen und Rückschlägen, in den aber Erfahrungen eingehen. In diesem Sinne scheitern Utopien auch nur ganz selten, sondern es werden Erfahrungen gemacht, die wieder in die Erarbeitung und Formulierung neuer Utopien eingehen, die wiederum kein Zielstrich bedeuten, sondern Orientierung schaffen bis zum Moment, da dieser ebenfalls wieder als unzulänglich erkannt worden sind.

15. In diesem Sinne ermöglicht uns das real-utopische Denken auch einen langen Atem: Wir werden uns bewusst, dass das Bessere Zeit braucht und sich entwickeln können muss, dass Gesellschaften, die sich zu lange falsch entwickelt haben, nicht wie ein Lichtschalter subito umgepolt werden können. Wir bekommen einen angemessenen Begriff von Zeit und Dauer.

16. Eine gute politische Gruppe, vor allem wenn sie links oder reformerisch tätig sein möchte, wäre also gleichsam eine politische, realutopische Werkstatt, in denen über das Scheinbare und Reale hinweg nachgedacht wird und diskutiert wird, was real an Besseren möglich wäre und im jetzt gleichsam als besserer Teil der Zukunft schlummert und dessen Realisierung etwas nachgeholfen werden könnte.

Andreas Gross

 

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